Universität

Die Unterrichtsstunde

Ich möchte über den Nahost-Konflikt sprechen», schrieb mir meine Studentin Djana in einer E-Mail. Ich hatte den Teilnehmern meines Rhetorik-Kurses das Angebot gemacht, in der Lehrveranstaltung über ein selbst gewähltes Thema zu sprechen. Meine erste Reaktion auf Djanas Vorschlag war: «Oha, das wird nicht einfach.» Denn ich ahnte, wie der Tenor ihres Vortrags sein würde, und hatte daher die Sorge, dass es eskalieren könnte.

Djana ist 2015 mit ihren Eltern aus Syrien geflohen. Sie ist 20 Jahre alt, trägt ein Kopftuch, studiert Architektur und möchte ihren künftigen Beruf in Dubai ausüben. Sie ist ehrgeizig und spricht gut Deutsch.

Sollte ich die Studentin, die einen «Free Palestine»-Button trägt, zu dem «heiklen» Thema sprechen lassen und es riskieren, dass es in der Lehrveranstaltung turbulent wird? Traute ich es mir zu, die Situation zu managen? Ich spürte meine Unsicherheit – auch in der Frage, wo genau die Grenze verläuft zwischen der Kritik an der israelischen Regierung und dem in dieser Kritik mitunter verpackten Antisemitismus.

Ich wollte mich nicht drücken

Ich überlegte, ob es ein Argument gegen Djanas Themenvorschlag gibt, und gab ihr schließlich das Okay. Ich wollte mich nicht drücken und eine eventuelle Auseinandersetzung zwischen Kursteilnehmern umgehen. Djana wies ich darauf hin, dass sie einen Sachvortrag halten und unbedingt darauf achten sollte, unterschiedliche Perspektiven zu referieren und dabei solide Quellen zu verwenden. Zwei Tage vor der Lehrveranstaltung schickte Djana mir ihre Präsentation. Auf einer der Folien stand unter der Überschrift «7. Oktober» unter anderem «Ca. 250 Geiseln --> seitdem ca. Hälfte freigelassen».

Ich erklärte ihr meine Einwände an ihrer Präsentation – etwa, dass die Geiseln nicht einfach «freigelassen» wurden, sondern ihre Freiheit zähen Verhandlungen und blutigen Kommandoaktionen zu verdanken hatten. Das sei ein erheblicher Unterschied. Meine Vorahnung, dass Djana nicht sachlich vortragen würde, schien sich zu bewahrheiten, ich wollte aber meine Zusage nicht zurücknehmen. Ich ging davon aus, dass ihr Vortrag nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Widerspruch stoßen würde.

Ich irrte mich. Die Studierenden gaben keinen Ton von sich, auch dann nicht, als Djana sagte, bei den Angriffen der Hamas seien am 7. Oktober 1200 Menschen «gestorben». Und auch, nachdem sie ihren Vortrag mit den Worten «Kritik an Israel ist kein Antisemitismus» beendete, war es ruhig im Seminarraum. Kein Widerspruch, kein Nachfragen der Kursteilnehmenden, die in den vorherigen Lehrveranstaltungen keineswegs wortkarg gewesen waren. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass hingenommen wird, wenn über Menschen, die auf bestialische Weise ermordet wurden, gesagt wird, sie seien «gestorben».

Die Studierenden gaben keinen Ton von sich.

Ich war sprachlos, glücklicherweise nur für einen kurzen Moment. Ich stand auf, richtete meine Worte an alle im Seminarraum. Natürlich könne Israel kritisiert werden, es komme auf das Wie an. Ich selbst würde auch die Siedlungspolitik der israelischen Regierung kritisieren. Danach brachte ich weitere Einwände an Djanas Input ein und erklärte, dass sie die Hamas gar nicht eingeordnet hat. Es handele sich um eine Terrororganisation, die für ihr Ziel, Israel zu vernichten, die Bevölkerung in Gaza als Schutzschild einsetzt und ihren Tod ohne Skrupel in Kauf nimmt. Und ich sagte energisch, dass es absolut inakzeptabel ist, die Opfer dieser Terrortruppe als «gestorben» zu bezeichnen.

Problematische Passagen des Vortrags

Djana hielt ihren Vortrag in der letzten Lehrveranstaltung des Semesters. Es gab keinen weiteren Termin mehr, bei dem ich die Studierenden hätte fragen können, warum sie die problematischen Passagen des Vortrags hingenommen haben. Über das Schweigen der Kursteilnehmenden, die unterschiedliche Fächer (Medien, Architektur, Maschinenbau et cetera) studieren, kann ich daher nur spekulieren. Hatten sie sich nicht getraut zu widersprechen? Waren ihnen die gravierenden Fehler gar nicht aufgefallen? Lag es daran, dass sie im Gegensatz zu Djana unpolitisch, desinteressiert sind? Oder hatten sie Angst, nicht auf die erwünschte Art zu antworten? Vermutlich ist von allem etwas dabei.

Soweit mir bekannt ist, gab es an der Hochschule Darmstadt, an der ich seit 20 Jahren als Lehrbeauftragte arbeite, keine Aktionen von propalästinensischen Gruppen und keine antisemitischen Vorfälle. Ich weiß daher nicht, wie ich im konkreten Fall interveniert hätte. Ich weiß jedoch, dass ich nicht kommentarlos an den Protestierenden vorbeigegangen wäre. Wer mich kennt, weiß, dass ich Konflikte nicht scheue und kein Geheimnis aus meinen Standpunkten mache.

Der Vorfall am Ende des Sommersemesters hat mich nachdenklich gemacht und mir einmal mehr verdeutlicht: Ich habe Probleme mit Studierenden, die unpolitisch sind – und ignorant gegenüber dem Terror vom 7. Oktober und dessen Auswirkungen. Nicht geheuer sind mir aber auch die Studierenden und all die anderen, die Pro-Palästina-Camps auf Uni-Gelände errichten, sich mit sogenannten Pali-Tüchern und Free-Palestine-Buttons positionieren – so wie Djana, meine muslimische Studentin, der es vermutlich aus der religiösen Zugehörigkeit und den Kriegs- und Fluchterfahrungen heraus an Distanz mangelt, um zu erkennen, dass bei dem sehr komplexen Nahost-Konflikt die Gut-Böse- beziehungsweise Opfer-Täter-Schablone nicht weiterhilft.

In den 80er-Jahren gefiel ich mir in der Rolle der Protestierenden.

Ob all die, die «From the River to the Sea, Palestine will be Free»-rufend auf dem Campus und im öffentlichen Raum demonstrieren, sich überhaupt die Frage stellen, was ihr Protest bewirkt? Glauben sie ernsthaft, dass ihre Aktionen den Menschen in Gaza helfen? Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich sollen Studierende ihr Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit nutzen, dies auch auf dem Universitätsgelände; das habe ich als Studentin auch getan.

Gerade deswegen weiß ich aber auch um die Fehler, die ich gemacht habe, nämlich mich mitreißen zu lassen von tonangebenden Gruppen. Rückblickend weiß ich nicht einmal mehr, wofür beziehungsweise wogegen ich mitdemonstriert habe in den 80er-Jahren. Ich mutmaße, dass ich nicht immer um die tatsächlichen Zusammenhänge wusste oder sie nicht verstand. Ich gefiel mir in der Rolle der Protestierenden.

Befeuert durch Propaganda und Hetze in sozialen Medien

Daher mutmaße ich, dass ein Teil derer, die sich propalästinensisch positionieren, dies vor allem für sich und ihr Gewissen tun. Sie wähnen sich auf der richtigen Seite, empfinden sich als die Guten und moralisch Überlegenen – befeuert unter anderem durch die medialen Bilder bombardierter Städte, von verletzten, toten Kindern und Erwachsenen, befeuert durch Propaganda und Hetze in sozialen Medien, befeuert durch die arg verfälschte Geschichte des Nahen Ostens und Beiträge von Wissenschaftlern.

Antisemiten und Anhänger postkolonialer Theorien stellen Israel als Usurpator und Kolonialmacht dar, verdrehen die Geschichte des jüdischen Volkes und machen Juden von Opfern zu Tätern. Es ist nicht leicht, das Terrain zu überblicken, auf dem Akteure unterschiedlicher Couleur mit so sehr voneinander abweichenden «Fakten» argumentieren und sich gegenseitig attackieren und hetzen.

Apropos Hetzer: So manche Posts und Kommentare von muslimischen Akteuren machen mich fassungslos – und es gruselt mich, wenn ich lese, was sich als deutsche Journalisten und als Muslime bezeichnende Personen mit mehreren Zehntausend Followern auf ihren Social-Media-Kanälen von sich geben.

Vor schlichten Wahrheiten schützen

Ich habe mich gefragt, warum ich mich nicht besonders anstrengen muss, um mich vor schlichten Wahrheiten zu schützen; warum ich als muslimisch sozialisierter Mensch nicht – wie so viele Muslime – nur empathisch mit Muslimen in Gaza bin, sondern auch mit Juden. Dass der 7. Oktober für Juden weltweit ein Trauma ist, das schreibe ich nicht nur dahin.

Ja, warum eigentlich? So manch einer der Muslime und Woken wirft mir wegen meiner Haltung vor, ich sei «eingeweißt», hätte mich also zu sehr angepasst. Ich sehe das anders. Meine Vermutung: Ich habe zwar in einer Moscheegemeinde am Religionsunterricht teilgenommen, habe aber nicht mehr weitermachen wollen, als ich begriff, dass ich den Koran lese, ohne dass ich das Gelesene verstehe. Ich bin nicht aufgewachsen mit dem Antisemitismus, den es unter türkischstämmigen Muslimen durchaus gibt, schon allein aufgrund des Narrativs, die Juden seien für den Verfall des Osmanischen Reiches verantwortlich.

Man sollte sich Zeit nehmen, Fachlektüre zu lesen, nicht nur Instagram-Kacheln.

In meine Sozialisation, auch in die religiöse, wirkten andere Einflüsse. So etwa meine Lehrerin, die in der 7. Klasse im Deutschunterricht mit uns Damals war es Friedrich von Hans Peter Richter las, im Kino Nacht und Nebel anschaute und sowohl das Buch und als auch den Film im Unterricht ausführlich besprach. Dass das Buch umstritten ist, habe ich erst sehr viel später erfahren; mich hat es – wie auch der Film – als zwölf- bis 13-jähriges Mädchen für den Antisemitismus sensibilisiert.

Meine Magisterarbeit schrieb ich über einen jüdischen Autor, dessen Werk ich bereits im ersten Semester kennenlernte: Jean Améry. Vielleicht ist es einfach nur Zufällen geschuldet, dass ich mich nicht verfangen habe in der «primordialen Loyalität». Vielleicht hängt es auch mit der Erziehung zusammen, die ich im Elternhaus genoss und die mich hat zum Freigeist werden lassen, der nicht nur das Leid der eigenen Gruppe sieht.

Um sich nicht vor den Karren der Antisemiten spannen zu lassen und antisemitischen Narrativen aufzusitzen, muss man achtsam sein, sich von kollektivistischer Identität befreien und vor allem sich solide informieren. Das ist anstrengend. Um sich nicht an schlichte Feindbilder zu halten, antisemitischen Narrativen aufzusitzen, muss man sich Zeit für die Lektüre solider Fachliteratur nehmen und es nicht beim Lesen von Instagram-Kacheln oder Social-Media-Posts von Möchtegernexperten und Hetzern belassen. Es ist offensichtlich weitaus bequemer und einfacher, sein Gerechtigkeitsgefühl von Plattitüden und Propaganda im Netz und kaum mehr überprüfbaren Medienberichten speisen zu lassen.

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