Als der deutsche Botschafter anlässlich Michael Jovys Ehrung durch Yad Vashem die Worte sprach, dieser sei »ein mutiger Deutscher, einer von denen, die es wagten, die Kräfte des Bösen herauszufordern«, war dies nicht nur für Jean Jülich eine Genugtuung.
Auch Peter Finkelgruen war die Rührung anzumerken, als er diese Erinnerung auf der Gedenkveranstaltung für den Edelweißpiraten Jean Jülich erzählte. 800 Menschen waren 2011 in die Kölner Stadthalle gekommen, um an den sehr beliebten Karnevalisten und Kneipier zu erinnern.
Der 1929 geborene Jülich war in Köln bereits zu Lebzeiten durch seine lebenszugewandte Art eine Legende. Als Jugendlicher hatte er sich dem Zeitgeist nicht angepasst, hatte bei den nonkonformistischen Kölner Edelweißpiraten mitgemacht, wozu eine gehörige Portion Mut gehörte. Sein Vater wurde 1936 inhaftiert, Jean kam mit sieben Jahren in ein Kinderheim. Er verweigerte sich der Gleichförmigkeit, dem Drill, wurde einer von etwa 3000 Edelweißpiraten. Gemeinsam sangen sie ihre Lieder, machten mit ihrer bunten Kleidung Ausflüge ins Siebengebirge.
Der in Shanghai geborene Peter Finkelgruen lebte seit 1964 in Köln. Von den Edelweißpiraten hatte man ihm noch nie erzählt.
1944 wurde Jülich aufgrund seiner Kontakte zu im Widerstand engagierten Jugendlichen in der gefürchteten Gestapozentrale »EL-DE Haus« verhört. In der Nachbarzelle befand sich der zwei Jahre ältere Bartholomäus Schink. Einen Monat später wurde Schink, zusammen mit zwölf weiteren, in Köln-Ehrenfeld öffentlich hingerichtet.
ENTWERTUNG Der in Shanghai geborene Peter Finkelgruen lebte seit 1964 in Köln. Von dieser widerständigen Kölner Tradition hatte man ihm jedoch noch nie erzählt. Mitte der 70er-Jahre war Finkelgruen einer der ersten Journalisten, die zu den Edelweißpiraten recherchierten. Dies erwies sich anfangs als schwierig: Die Mitglieder selbst schwiegen, aus Angst vor weiterer öffentlicher Entwertung. Sie, die wenigen Mutigen, wurden über Jahrzehnte als »Kriminelle« attackiert, auch von der Justiz und von den Behörden. Wiedergutmachungsanträge wurden durchweg abgelehnt.
Finkelgruen erinnerte dies an sein eigenes familiäres Schicksal: Auch sein jüdischer Vater und Großvater hatten, auf ihre Weise, Widerstand geleistet. Nicht mit der Waffe. Aber sie hatten versucht zu fliehen. Seine Großmutter Anna hatte ihren jüdischen Lebenspartner in Prag drei Jahre lang versteckt, bis sie doch ins Konzentrationslager kamen.
Finkelgruen sprach mit den Verwandten der Ermordeten, mit Edelweißpiraten. 1978 erschienen zwei seiner Recherchen in der »Frankfurter Rundschau«, dann folgten Buchbeiträge. Finkelgruen wollte es nicht dabei belassen. 1981 schloss er ein 300-seitiges Buch ab. »›So weit er Jude war …‹ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944« lautete der Titelentwurf.
Bundesinnenminister Gerhart Baum, aus Kölner FDP-Zeiten bis heute eng mit Finkelgruen befreundet, steuerte ein einfühlsames Vorwort bei: »Es ist ein grausames Verfahren, das Finkelgruen für sich und für seine Gesprächspartner – sowohl für die noch lebenden als auch für die, die er in den Akten vorfand – gewählt hat. Er setzt sie einem harten und leidenschaftlichen Verhör aus. Sich selbst befragt er in der gleichen Weise.«
BEHÖRDE Finkelgruen beschreibt seine Gespräche mit Edelweißpiraten. Aber vor allem berichtet er über die ihm aufgenötigten Gespräche mit dem beim Regierungspräsidium angesiedelten Leiter des Kölner Amtes für Wiedergutmachung, einem Dr. Dette. Dieser hatte ihn sowie Jülich nach seinem ersten FR-Beitrag vorgeladen und ihm, dem Juden, der den verfolgten Jugendlichen zumindest postum ihre historische Würde wiedergeben wollte, gedroht.
Bis in die 80er-Jahre wurden die Edelweißpiraten als Kriminelle betrachtet.
»In meiner Naivität erwartete ich, daß der Kölner Regierungspräsident, Dr. Franz-Josef Antwerpes, nun das Unrecht, für das seine Behörde verantwortlich war, korrigieren würde. Das Beharren des Kölner Regierungspräsidenten auf der amtlichen Unterdrückung von historischer Wahrheit zwang mich, weitere Fragen zu stellen.« Dass er hierbei vor allem als Jude schreibt, ist ihm bewusst: »Mir wurde klar, daß diese Fragen und die entsprechenden Antworten meine eigene Existenz in diesem Land berührten.«
Nun war das Thema »in«. Mehrere Autoren veröffentlichten 1981 Bücher über die Edelweißpiraten. Das Schweigen war gebrochen – die offizielle Verdammung der jugendlichen Opfer hingegen nicht. Immer neue gespenstische öffentliche Kontroversen entbrannten; Forscher versuchten verbissen, den »kriminellen« Charakter der unangepassten Jugendlichen zu belegen.
UNABHÄNGIGKEIT In persönlicher Weise beschreibt Finkelgruen, was politischer Widerstand in seiner eigenen Familiengeschichte bedeutete – und in welcher Weise die Verweigerung von Jugendlichen in der Nazizeit, ihr Drang nach Unabhängigkeit, bei Personen wie Hans Steinbrück mit konkreten Angriffen auf nationalsozialistische Funktionsträger verbunden war. Finkelgruens Recherchen sind bis heute bewegend zu lesen und unterscheiden sich grundlegend von der Vielzahl von Publikationen, die in den Jahrzehnten danach entstanden.
Sein 1932 in Dresden geborener Freund Gerhart Baum verstand Finkelgruens Pionierleistung: »Seine Sprache verzichtet weitgehend auf polemische Zuspitzung, aber zwischen den Zeilen wird die innere Spannung deutlich, die Finkelgruen aushalten muss, um nicht laut herauszuschreien. Zu schreien, wie wenn man eine Entdeckung macht, die eine entsetzliche Tat unwiderruflich ans Tageslicht holt, sodass man sie nie wieder verschweigen kann«, schreibt er im Vorwort.
Im Jahr 2005 rehabilitierte Regierungspräsident Jürgen Roters die Edelweißpiraten in einer offiziellen Zeremonie.
1981 befand sich Finkelgruen in einer Umbruchphase: Er wollte als Vertreter der Naumann-Stiftung nach Israel gehen, in das Land seiner Jugend, was ihm ein Jahr später gelang. Sein Buch blieb ungedruckt. In den kommenden Wochen wird Peter Finkelgruens Pionierleistung im Internet unter www.hagalil.com/finkelgruen/ doch noch veröffentlicht.
Damals jedoch tat Finkelgruen etwas sehr viel Bedeutsameres: 1981 reichte er umfangreiche Materialien über die Edelweißpiraten bei Yad Vashem ein. Als dies in Köln durchsickerte, ließen die regierenden Sozialdemokraten nichts unversucht, um die Ehrung zu verhindern. Oberbürgermeister Norbert Burger reiste in die Partnerstadt Tel Aviv, um im Stadtrat vor diesen »kriminellen Jugendlichen«, die 1944 ohne Gerichtsurteil öffentlich ermordet worden waren, zu warnen – vergeblich.
Kölsch 1984 wurden Jülich, der hingerichtete Schink und der Widerständler und spätere Diplomat Michael Jovy von Yad Vashem als »Gerechte unter den Völkern« geehrt. Und Finkelgruen zeigte seinem Freund Jean Jerusalem. An der Ehrenveranstaltung nahmen – so erinnert sich Jülich in seiner 2003 erschienenen Autobiografie Kohldampf, Knast un Kamelle – auch »drei Dutzend« ehemalige Kölner Jeckes teil. Um ihn, den »Kölschen Kraat«, teils noch in »waschechtem Kölsch« anzusprechen: »Ich war erschüttert. Hinter all den Fragen spürte ich das Heimweh dieser Menschen, die man aus ihrer Heimat vertrieben hatte und die in ihrem Herzen immer noch ein bisschen Kölsche waren. Es war wirklich überwältigend.«
In Köln dauerte es noch zwei Jahrzehnte, bis die Verfolgten Gerechtigkeit erfuhren: 2005 rehabilitierte sie Regierungspräsident Jürgen Roters in einer offiziellen Zeremonie. Er erklärte die absurde Debatte für beendet: Für ihn gehörten diese Jugendlichen zu den wenigen, die sich nicht angepasst hatten. Erst als die Generation der noch mit der Nazizeit Verbundenen in Rente ging, war dies politisch möglich.