Frau Stepanova, Sie leben derzeit in Berlin und werden im Frühjahr mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet. Was bedeutet das für Sie?
Es bedeutet alles – und das auf mehreren Ebenen. Der Preis wurde für einen Gedichtband verliehen. Das passiert eher selten, und für mich ist das eine Anerkennung dafür, dass Lyrik zählt. In dunkler Zeit könnte sie sogar wichtiger und notwendiger sein als sonst. In der »anderen« dunklen Zeit, der Zeit der Konzentrationslager in Europa, haben Gedichte vielen Menschen geholfen zu überleben. Wir wissen aus unterschiedlichen Erinnerungen, sowohl aus der Sowjetunion als auch aus Nazi-Deutschland: Wenn jemand genug Gedichte auswendig konnte, schuf das eine Art Schutzraum, und der Mensch konnte nicht nur als Person überleben, sondern auch den Raum der Poesie mit anderen teilen – einen Raum, der sich zu einer Art großem Zelt aufblies und eine Gruppe von Menschen darunter vereinte, die in psychischer Hinsicht überleben konnten. In gewöhnlichen Zeiten ist das nicht so essenziell, aber das, was jetzt passiert, ändert alles. Ein anderer Aspekt ist natürlich: Ich war völlig überrascht über diesen Preis, weil es momentan nicht gerade als ideales Timing wirken könnte, die Arbeit einer russischen Künstlerin zu feiern. Denn der russische Staat, so wie er heute und in den vergangenen 25 Jahren existiert, wird immer gefährlicher nicht nur für den Rest der Welt, sondern auch für seine eigenen Bürger. Das primäre Ziel der russischsprachigen Intellektuellen innerhalb und außerhalb Russlands ist es, Widerstand gegen diesen Staat und dessen Logik der Unterdrückung und der Gewalt zu leisten. Es bedeutet also alles, von diesem Widerstand Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen, dass die Anstrengungen es wert sind. Und vielleicht bedeutet es, dass auch für die russische Sprache noch etwas möglich ist und sie nicht vollständig der Gewalt anheimfällt. Sie könnte etwas anderes sein, wenn man sich anstrengt und viel daran arbeitet, damit sich etwas ändert. Es gibt also noch Hoffnung.
Sind Sie in Zeiten des Krieges in der Lage, Gedichte zu schreiben? Oder schreiben Sie eher Prosa?
Ich war einige Monate lang nicht fähig, überhaupt etwas zu schreiben. Ich habe zwei Essays über die aktuelle Situation verfasst, und das war ein schmerzhafter Prozess. Ich musste die Wörter aus meinem Kopf ziehen, und der Kopf weigerte sich, weil es fast unmöglich ist, mit den Umständen klarzukommen. Nichts ist mehr so, wie es war. Der russische Staat versetzt uns in tief archaische Zeiten zurück, in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts – mit Xenophobie, Feindschaft gegenüber den Nachbarländern und anderen Ethnien und mit seiner barbarischen Art der Kriegsführung. Ich habe auch einen kleinen Gedichtzyklus geschrieben, aber ich denke, dass ich ihn nicht veröffentlichen werde, bis der Krieg zu Ende ist. Denn ich bin inmitten eines Prozesses, und Lyrik bedarf eines externen Blickwinkels, den sich derzeit niemand leisten kann.
Welche Dichter lesen Sie? Was hilft Ihnen, diese Zeiten zu überstehen?
Einige russische Dichter aus dem 20. Jahrhundert wie Ossip Mandelstam. Und natürlich Paul Celan. Er lebte zu Beginn seines Lebens an den Rändern des deutschen Sprachgebiets und hatte die Möglichkeit, die deutsche Sprache sowohl als etwas Externes als auch als Teil seiner selbst zu betrachten. Und nach dem Zweiten Weltkrieg hat er die deutsche Sprache praktisch neu erfunden und sie sich zu eigen gemacht, aber ohne sie zu besitzen, denn wie kann man eine Sprache besitzen, die praktisch die eigenen Eltern und das eigene vorherige Selbst getötet hat? Er hat seine eigene, idiosynkratische Version des Deutschen geschaffen, eine Sprache, die gleichzeitig Deutsch und nicht Deutsch ist, und hat das Territorium der Sprache erweitert über ihre ursprünglichen Grenzen hinaus. Auch das gibt Hoffnung.
Paul Celan hat Ossip Mandelstam übersetzt und ihn als seinen Bruder im Geist betrachtet …
Celan und Mandelstam haben in der Tat viel gemeinsam – zusammen mit vielen anderen Millionen Menschen, die im 20. Jahrhundert ausgelöscht wurden. Und das lässt mich erneut über die intellektuellen Anstrengungen der letzten vier oder fünf Jahrzehnte nachdenken, die einen Raum schaffen sollten, der sich vom Erbe des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Nun sind wir wieder damit konfrontiert. Die Uhr geht also rückwärts. In den vergangenen 15 Jahren habe ich in Russland als Chefredakteurin des Kulturportals colta.ru gearbeitet, im März 2022 wurde es geschlossen. Und was mir in diesen 15 Jahren an der Sprache der Staatsmedien auffiel, waren die Ähnlichkeiten mit dem journalistischen Stil der 30er- oder 50er-Jahre. Eine oppositionelle Website – ich denke, es war »Medusa« – hat eine Umfrage gemacht und Menschen gefragt, ob bestimmte Zitate aus einem aktuellen Propagandamedium oder aus der »Prawda« der 30er-Jahre oder aus dem »Stürmer« stammen. Ich als Schriftstellerin müsste das eigentlich beurteilen können, aber einige Male habe auch ich mich geirrt. Offenbar ist diese Art der Sprache in unserer DNA verankert, und es ist nicht sehr schwierig, sie wieder zum Vorschein zu bringen. Und das ist sehr beängstigend.
Haben Sie Kontakt zu ukrainischen Autoren, oder leiden unter dem Krieg auch die Beziehungen zwischen Schriftstellern?
Es ist komplizierter, und das hat auch mit der Sprache zu tun. Die russische Sprache ist zu einem Vorwand für die Invasion der Ukraine geworden. Wladimir Putin hatte erwartet, dass die russischsprachigen Ukrainer den Krieg begrüßen und gerne wieder ein Teil von Russland werden würden – warum auch immer! Die Sprache selbst ist also zu einem Diskussionsgegenstand geworden, nicht nur innerhalb der Ukraine. Heute sind wir als Russen nicht in der Lage, an einer solchen Diskussion teilzunehmen, während der Krieg noch wütet. Wir sind nicht Teil des Podiums, sondern wir müssen zuhören und vieles überdenken und ändern. Aber im persönlichen Bereich habe ich es geschafft, meine Freundschaften zu Ukrainern aufrechtzuerhalten.
In Ihrem 2018 erschienenen Buch »Nach dem Gedächtnis« erzählen Sie die Geschichte Ihrer russisch-jüdischen Familie – allerdings nicht linear. Warum haben Sie sich für die essayhafte Form entschieden?
Ich wollte niemals eine zusammenhängende fiktionale Geschichte über meine Familie schreiben, zum Beispiel über meine Urgroßmutter Sarra Abramowna Ginsburg. Ihr Leben zur Zeit der Oktoberrevolution und ihr Liebesleben hätten genug Stoff hergegeben. Aber ich mag diese Unterteilung von Menschen in »interessant« und »uninteressant« nicht. Ich wollte, dass alle Familienmitglieder die gleiche Aufmerksamkeit bekommen. Außerdem wollte ich nicht einen Menschen romantisieren oder fiktionalisieren, der wirklich existiert hat. Das wäre fast so, wie ein Tier auszustopfen. Meine Urgroßmutter hat gelebt, und sie hatte Gefühle. Ihre Existenz erfordert Respekt und Aufmerksamkeit, und es würde sich ausgesprochen falsch anfühlen, ihre eigene Realität durch meine Vorstellungen zu ersetzen.
Sie schildern auch, wie Ihre Mutter im Alter von zwölf Jahren erleben musste, dass sich ein Nachbarjunge über die Familiennamen Gurewitsch und Abramowna lustig machte. War Antisemitismus ein Grund, warum Ihre Eltern 1995 als »Kontingentflüchtlinge« nach Deutschland kamen? Sie hingegen hatten damals entschieden, in Moskau zu bleiben.
Dem Antisemitismus kann man nicht entkommen, er ist überall. Aber während ich dieses Buch schrieb, hatte ich vielleicht ein ähnliches Gefühl wie meine Eltern, als sie Russland 1995 verließen. Sie wollten die Geschichte hinter sich lassen, all die Traumata, all die Dramen und die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten sofortiger und schrecklicher Veränderungen. In diesem Buch sind verschiedene Leben im Lauf eines Jahrhunderts vermischt, von denen ich zuvor nichts wusste, und es war eine große Bürde für mich. Ich habe über dieses Buch fast 30 Jahre nachgedacht. Ich wollte durch die Veröffentlichung einen Schlusspunkt setzen und vergessen – und mein eigenes Leben in einem anderen Jahrhundert fortsetzen, unter anderen Umständen –, ohne zu viel Geschichte um mich herum. Aber so funktioniert das nicht.
Ihr Buch verarbeitet das Grauen des 20. Jahrhunderts. In Zukunft werden Bücher erscheinen, die sich mit den Grausamkeiten des 21. Jahrhunderts beschäftigen …
Das befürchte ich.
Seit dem Sommer leben Sie als Stipendiatin des Wissenschaftskollegs in Berlin. Haben Sie vor, nach Russland zurückzukehren, wenn der Krieg zu Ende ist?
Das ist schwer zu sagen, weil es nicht nur vom Ende des Krieges abhängt. Der russische Staat muss einen ultimativen Wandel durchmachen, bevor ich in der Lage sein werde, zurückzukehren. Zum Beispiel hat Russland verboten, LGBTQ-Fragen in irgendeinem positiven Kontext zu erwähnen. Und das ist nicht nur bizarr, sondern es ist lähmend – nicht nur für die Menschen, die zu dieser Community gehören, sondern es werden sogar Bücher von Mitte des 20. Jahrhunderts aus öffentlichen Bibliotheken entfernt. Für mich wäre es unmöglich, in einem solchen gesellschaftlichen Klima zu leben. Und man weiß auch nie, was der russische Staat als Nächstes unternehmen wird. Ich wollte niemals aus Russland emigrieren, ich hatte im Lauf der Jahrzehnte viele Optionen und habe sie nicht genutzt. Ich vermisse Moskau, meine Freunde, die vertrauten Orte. Aber ich frage mich auch: Was von alledem werde ich wiedererkennen können, wenn ich zurückkehre?
Wären Sie gefährdet, wenn Sie jetzt zurückkehren würden?
Man kann derzeit überhaupt nichts voraussagen, das wäre Russisches Roulette. Ich denke, ich bin aus mehreren Gründen nicht so sehr gefährdet, weil der Staat vor allem Aktivisten verfolgt, die demonstrieren. In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten hat der Staat Schriftsteller eher ignoriert – anders als in sowjetischen Zeiten, als man für ein Gedicht getötet werden konnte. Vielleicht liegt das daran, dass die Beamten des Staates nicht lesen. Putins Regierung fördert eher Kino oder Theater. Aber es gibt ein anderes Problem: Als Lyrikerin muss ich zumindest die Option haben, offen zu sprechen und zu publizieren. Und ich wäre niemals in der Lage, meinen Gedichtzyklus über den Krieg zu veröffentlichen, wenn ich den Krieg explizit erwähnte. Denn es ist per Gesetz verboten, ihn so zu nennen.
Und Sie können keine Gedichte über eine »Spezialoperation« schreiben …
Ja, Krieg ist ein Nicht-Wort. Also gibt es keine Möglichkeit, diesen Gedichtzyklus zu veröffentlichen. Und wenn ich trotzdem einen mutigen Verleger finde, dann wird mein Buch das Ende dieses Verlags sein, und ich habe kein Recht, ein Unternehmen zu ruinieren oder zu riskieren, dass der Verleger im Gefängnis landet.
Mit der Dichterin und Schriftstellerin sprach Ayala Goldmann.
Maria Stepanova: »Mädchen ohne Kleider. Gedichte«. Suhrkamp, Berlin 2022, 69 S., 23 €; »Nach dem Gedächtnis«. Roman. Suhrkamp, Berlin 2018, 527 S., 24 €