Herr Cohen, Ihr neues Album trägt den Namen Ihrer Band »Big Vicious«. Was ist denn dieses große Bösartige?
Also, eigentlich kann das wirklich alles sein. Wir haben uns als Band irgendwann entschlossen, uns so zu nennen. Warum, das kann ich gar nicht mehr so genau sagen. Privat sind wir die liebenswürdigsten Menschen, die es geben kann. Musikalisch suchen wir allerdings das Kantige. Das »Vicious« war also immer da, und es hat uns mit diesem Namen verbunden. Und weil wir uns präsentieren wollten, haben wir dem Album auch gleich diesen Namen gegeben.
Und das wurde Ende März veröffentlicht, mitten in den Zeiten der Corona-Pandemie. Die Berliner Musikerin Yael Nachshon Levin sagte kürzlich, dass es für sie eine Art Soundtrack zur derzeitigen Situation ist. Können Sie das nachvollziehen?
Sagen wir es mal so: Es ist eine heruntergefahrene Variante der Art, wie wir sonst spielen. Live kann es schon sehr wild, sehr energiegeladen und dynamisch zugehen. Vielleicht hat diese etwas ruhige Ausstrahlung des Albums auch damit zu tun, wie wir als Musiker zum Zeitpunkt der Aufnahme waren. Vielleicht sollte ich das Ruhige auch eher fokussiert und beschaulich nennen. Vieles kommt auf diesem Album von innen. Hinzu kommt: Wenige Alben können diese Live-Energie einfangen. Nicht alles, was live eingespielt oder auf der Bühne aufgezeichnet wird, funktioniert auf einem Album.
Das ist bei »Big Vicious« aber doch gelungen.
Ja, aber man muss schon aufpassen, dass es korrekt und nicht wie ein komplettes Durcheinander klingt. Wenn die Musiker und das Publikum bei der Aufnahme des Albums zwar viel Spaß haben, kann es trotzdem sein, dass es nicht so richtig klingt, wenn man es sich später anhört. Also, die Herausforderung ist, diese Live-Energie einzufangen. Wir haben uns die Frage gestellt: Was wollen wir später hören? Wie können wir das Wilde der Band beibehalten? Das wiederum hat uns sehr fokussiert und konzentriert arbeiten lassen. Und daher kommt dieses Entspannte.
Wo haben Sie das Album aufgenommen?
In Frankreich, wo ich auch schon meine vergangenen zwei Quartett-Alben eingespielt habe.
Weshalb haben Sie sich entschieden, für »Big Vicious« dorthin zurückzukehren?
Technisch gesprochen, kenne ich das Studio sehr gut. Der Sound-Ingenieur Gerard kennt meinen Klang. Ich muss da nur hinfahren, kann mich schon bei der Anreise darauf einstimmen. Und mal vom Studioleben abgesehen: Ich kenne den kleinen Laden um die Ecke, weiß, welches Restaurant wo ist, welches gut ist. Manchmal ist es gut, an Orte zurückzukehren, die man kennt. Obwohl: Neue Orte sind natürlich auch aufregend. Was auch immer kommt: Ich versuche, dem positiv zu begegnen. Auch jetzt in Zeiten von Corona.
Was ziehen Sie Positives daraus?
Für mich ist es irgendwie eine Auszeit. Ich hatte ja gerade eine freiwillig eingeplante Auszeit. Und die Situation jetzt fühlt sich wie eine Fortsetzung davon an. Es ist eine Zeit, in der ich zur Ruhe komme. Ich genieße die Stille. Ich bin mit meinen Kindern zusammen. Ich bin einfach nur. Genieße es, nicht einpacken zu müssen. Nicht auspacken zu müssen. Nicht jede Nacht in ein anderes Hotel zu müssen.
Das klingt eigentlich sehr gemütlich.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich freue mich darauf, wenn ich wieder auf Tour gehen kann, und auf den ganzen Lifestyle, der dazugehört. Diese Zeiten haben zwei Seiten. Sie sind wunderschön und großartig, aber auch hart und herausfordernd. Ich genieße, dass ich diese raue Seite nicht habe. Ich habe mich mental darauf vorbereitet, nun zu Hause zu bleiben. Ich fühle mit den vielen Künstlern, die gerade ihr erstes Album herausgebracht haben oder auf ihre erste Tour gehen wollten. Das ist bei mir ja komplett anders, obwohl ich ja auch gerade ein Album veröffentlicht habe. Aber ich bin schon etwas länger dabei.
Und auf diesem Album reisen Sie musikalisch von Ludwig van Beethoven zu Massive Attack.
Ja, wir covern gern. Wenn man im Jazz zu Hause ist, spielt man die Lieder der anderen. Das ist die Essenz unserer Musik. Wenn ich mit der Band Songs spiele, sie covere, dann sind das meistens Lieder aus den 90er-Jahren. Massive Attack war immer ein fester Bestandteil, aber auch Sachen von Björk oder Radiohead. Gershwin spielte auch Coverversionen der Musik, mit der er aufwuchs.
Und woher kommt Ihre Begeisterung für Beethovens Mondscheinsonate, die Sie auf Ihrem Album interpretieren?
Ich habe in den vergangenen Jahren sehr viel Klassik gehört und mich dieser Welt angenähert. Ich möchte die Energie dieser Musik nehmen und sie zeitgemäß klingen lassen. Manchmal spielen wir auch mit Orchester, von daher ist diese Musik auch ein Teil von uns.
Sie haben viele Jahre in New York gelebt und sind dann nach Tel Aviv zurückgekommen.
2011, also vor fast einem Jahrzehnt, bin ich nach Israel zurückgekehrt und habe dann aber für ein paar Jahre in Indien gelebt.
Waren Sie auf der Suche nach irgendetwas?
Ich wollte genau das Gegenteil von New York erfahren, wollte Stille, Leere, Nichts. Und das habe ich in einem kleinen Dorf in Goa gefunden.
Was hat Ihr Instrument, die Trompete, was andere Instrumente nicht haben?
Zuerst einmal kann sie – wie alles auf der Welt – das Schönste und das Schrecklichste sein. Es kommt darauf an, wer sie spielt. Die Möglichkeiten, die eine Trompete bietet, ähneln der der menschlichen Stimme. Mit der Stimme verbindet sich der Mensch sehr schnell. Aber gleich danach folgt die Trompete. Denn durch sie kann man Gefühle und das Herz hören. Denn wenn man Trompete auf die falsche Art und Weise spielt, dann kann es ein ziemlich nervtötendes Instrument sein. Aber eigentlich will ich gar nicht so sehr viel dazu sagen.
Was hat Sie denn als Kind dazu gebracht, Trompete statt beispielsweise Gitarre zu spielen?
Ein Freund meines Bruders, der Trompeter Tomer Levi, kam immer zu uns nach Hause und spielte auf seiner Trompete. Ich fand es faszinierend, wie dieses Instrument klang. Es war großartig. Und er ist der eigentliche Grund, weswegen ich mit dem Trompetespielen anfing. Außerdem: Es sah irgendwie einfach aus. Drei Knöpfe, klein. Ich wusste damals natürlich nicht, dass sie gerade deswegen so schwer zu spielen ist.
Wenn Sie noch etwas über diese seltsamen Zeiten sagen sollten, was wäre das?
Ich finde ja, dass diese Zeit den wahren Charakter und die wahren Seiten in uns hervorbringt und zeigt, wer wir eigentlich sind. Wenn man vorher unzufrieden und unglücklich war, dann ist man es jetzt bestimmt noch mehr. Und umgekehrt.
Mit dem israelischen Musiker sprach Katrin Richter.
Avishai Cohen: »Big Vicious«, ECM Records, München 2020