Alvin Rosenfeld, von Hause aus eigentlich Literaturwissenschaftler und seit 30 Jahren Direktor des Zentrums für jüdische Studien an der University of Indiana, hat ein Buch mit einem frappierenden Titel geschrieben: The End of the Holocaust.
Ende? Wieso Ende? Gibt es nicht hunderte Zentren, die sich einem Fach namens »Holocaustforschung« widmen? Handelt nicht jeder dritte Roman und jeder vierte Film vom Holocaust, jedenfalls irgendwie? Treibt man die Auflage einer Zeitschrift nicht zuverlässig in die Höhe, indem man auf dem Cover das Foto eines Mannes mit Bürstenbart, schreiendem Mund und stechenden Augen druckt?
inflationierung Genau darin besteht nach Alvin Rosenfeld das Problem. Schließlich erfahren die meisten Menschen vom Völkermord an den europäischen Juden nicht aus historischen Fachbüchern, sondern aus der populären Kultur. Und dort hat es eine beachtliche Verschiebung gegeben. Früher sah es noch so aus: Der Holocaust war ein Verbrechen, das Deutsche an Juden begangen haben. Dabei gab es – um einen Buchtitel von Raul Hilberg zu zitieren – Mörder, Opfer und Zuschauer.
Doch dieses Bild ist mit dem zeitlichen Abstand immer mehr verschwommen, als hätte eine Milchglasscheibe sich vor dieses nicht jugendfreie Kapitel der Geschichte geschoben. Der Holocaust verschwindet zusehends hinter allgemeinen Phrasen über die »Unmenschlichkeit der Bestie Mensch«.
Die Besonderheit, dass die Opfer Juden waren, verschwindet aus dem Blickfeld; ebenso der Umstand, dass es sich bei den Tätern um Deutsche handelte. Und Hitler? »Wir hatten den rasenden Hitler, den zerknirschten Hitler, den zärtlichen Hitler«, schreibt Rosenfeld. »Es gibt Erzählungen, die ihn als Frau zum Leben erwecken; andere erschaffen ihn als Juden neu.«
Außerdem gibt es die sich verschärfende Tendenz, jeden Mist und jedes häusliche Missgeschick zum Holocaust zu erhöhen. Denn wenn auch keiner in der Gegenwart ein Opfer sein will, so möchte doch jeder in der Vergangenheit eines gewesen sein: Wer sich so präsentiert, hat gewisse Privilegien, er darf renitent sein und seiner Umgebung mit unverschämten Forderungen auf die Nerven fallen.
So ernennt die katholische Kirche bekanntlich Abtreibungen alle Jahre wieder zum »neuen Holocaust«; die afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison bezeichnete die Sklaverei als »Holocaust an 60 Millionen«, US-Feministinnen haben das Dasein von Hausfrauen allen Ernstes mit der KZ-Haft gleichgesetzt; und Neonazis sprechen von einem »Bombenholocaust« der Alliierten am deutschen Volk.
verkitschung Besonders aufschlussreich sind zwei Kapitel, in denen Alvin Rosenfeld sich mit dem Nachleben von Anne Frank in der Kultur auseinandersetzt. Man darf das, was mit ihr geschehen ist, getrost als Leichenfledderei bezeichnen. Anne Frank wurde in kitschigen Theaterstücken und Filmen konsequent entjudaisiert und zu einer säkularen Heiligen gemacht, die trotz allem an das Gute im Menschen glaubte – ihr entsetzliches Ende als KZ-Häftling in Bergen-Belsen wurde dabei konsequent verschwiegen.
Vor allem in Deutschland gab es einen makabren Anne-Frank-Kult; in den 60er-Jahren wurde dieses Kind zur Gestalt, in der die Deutschen sich selbst vergaben. Der Höhepunkt der Geschmacklosigkeit war aller dings erst erreicht, als Anne Frank auf einem holländischen Graffito mit Palästinensertuch dargestellt wurde. Soll wohl heißen: Anne Frank gehört zum palästinensischen Volk, die Israelis sind die neuen Nazis.
Bei der Lektüre dieser Passagen empfindet der Leser eine vielfältige und komplexe Wut. Es ist Alvin Rosenfeld hoch anzurechnen, dass er bei der Präsentation seines Materials nie die Contenance verliert. Er muss sich beim Schreiben die Nase zugehalten haben.
wiederholungstäter Das Buch hat einen zweiten, weniger polemischen Teil, in dem es um die Werke von Überlebenden geht: also um Jean Améry und Primo Levi, um Elie Wiesel und Imre Kertész. Einfühlsam spekuliert Rosenfeld dort über die Gründe, warum Levi und Améry sich umgebracht haben, und er analysiert den Unterschied zwischen den europäischen Schriftstellern und Elie Wiesel.
Die europäischen KZ-Überlebenden, schreibt Rosenfeld, waren säkulare Schriftsteller, denen es vor allem darum ging, mit den Deutschen ins Gespräch zu kommen – und die frappiert waren, dass dieses Gespräch nie zustande kam. Dem Amerikaner Elie Wiesel dagegen waren die Deutschen ziemlich egal.
Er stammte aus dem ungarischen Chassidismus und rang in seinen Büchern eher mit theologischen Fragen. Anders und kurz (zu kurz) gesagt: Die europäischen Überlebenden litten im Angesicht des Schreckens am Schweigen der Deutschen, der Amerikaner dagegen litt am Schweigen Gottes.
In einer Art Epilog wagt Rosenfeld zum Schluss den Blick in den Abgrund. Immer lauter werden die Stimmen jener Zeitgenossen, die den Juden ungnädig vorwerfen, sie wollten das Leid monopolisieren. Und wenn sich die offene, freche Leugnung des Holocaust nicht durchgesetzt hat, so ist es in akademischen Kreisen doch schick geworden, über eine perfide »Holocaustindustrie« zu klagen.
Gleichzeitig baut die Führung des Iran weiter an der Atombombe und droht dem Staat Israel (verblümt und unverblümt) mit Auslöschung: Eine zweite »Endlösung der Judenfrage« ist längst in den Bereich des Denkbaren gerückt. Damit hatte kein KZ-Überlebender gerechnet, der sich nach 1945 hinsetzte, um seine Erinnerungen aufzuschreiben. The End of the Holocaust ist kein lustiges, aber ein notwendiges Buch. Schön wäre, wenn es bald ins Deutsche übersetzt würde.
Alvin Rosenfeld: »The End of the Holocaust«, Indiana University Press 2011, 310 S., 29,95 US-$