Mit einer umgedrehten Tasse fing alles an. Tom Saller saß im Restaurant des Leipziger Flughafens, trank einen Kaffee und wendete gedankenverloren das Gefäß, als ihm das Zepter des Bodens der Kaffeetasse auffiel. Beim genaueren Hinsehen entpuppte es sich als Teil des »Service Hermes«, das die jüdische Keramikerin Marguerite Friedlaender in den 30er-Jahren entworfen hatte.
Das Zepter ist die Signatur der Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM). Ob Vasen, Kannen, Teller oder figürliches Porzellan – jedes Stück verlässt die Werkstatt mit diesem Siegel. Es stammt aus dem Kurbrandenburgischen Wappen, denn 1763 übernahm Friedrich der Große die Manufaktur.
Tom Sallers Neugier als Autor war geweckt. Nach seiner Rückkehr nach Berlin wandte er sich umgehend an die KPM. Das ist nun mehrere Monate her. Entstanden ist aus der Recherche inzwischen der 416 Seiten umfassende Roman Ein neues Blau.
An diesem Morgen stehen Journalisten und Fotografen in den Räumen des KPM-Showrooms in Berlin-Tiergarten. Denn Saller verknüpft den Bericht über Handlung und Entstehungsgeschichte seines Romans mit einer Führung durch die Arbeitsräume und Hallen der KPM.
Romanfigur Lili fühlt sich zwischen ihren Identitäten hin- und hergerissen.
Im Mittelpunkt des Romans steht die fiktive Figur Lili. Tom Saller stellt sie als »starke, außergewöhnliche Frau« vor, während er auf die Ringöfen der Manufaktur zeigt. Die Protagonistin wird Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin geboren. Als Siebenjährige verliert sie ihre Mutter an die damals grassierende Spanische Grippe. Ihr jüdischer Vater, Jakob Cohen, ein Teehändler, zieht die Tochter zusammen mit zwei Freunden groß, einem Japaner und einem Rabbiner. Außerdem gehört dem Haushalt eine strenggläubige jüdische Haushälterin an. Im Haus der Familie gibt es eine Porzellanschale, die Lili viel bedeutet – sie wurde genau hier, in diesen Ringöfen, gebrannt.
FARBTON Claudia Tetzlaff arbeitet seit vielen Jahrzehnten als Malerin bei KPM. Sie ist zuständig für Feld- und Wiesenblumen. Sie lädt die Runde dazu ein, ihr und Tom Saller in die riesigen Arbeitshallen zu folgen. Während die KPM-Mitarbeiterin vor einem Ofen stehen bleibt und erläutert, wie früher das Porzellan hineingestellt und bei 1000 Grad gebrannt wurde, kommt Saller auf den titelgebenden typischen KPM-Blauton zu sprechen – als wesentliche historische Voraussetzung für den Roman. So beginnt das Buch damit, dass nach mehrjähriger Forschung endlich der richtige Ton gefunden wurde, von dem der Auftraggeber Friedrich der Große immer geträumt hatte: das »Bleu Mourant«, übersetzt: sterbendes Blau. Immer nur zwei Mitarbeiter kannten das Rezept, um die richtige Mischung zu treffen – so ist es auch heute noch. Genau dieses Blau spielt für Romanheldin Lili eine entscheidende Rolle. Denn es hilft ihr, vor den Nazis zu fliehen, als sie deportiert werden soll.
Die Besucher sind inzwischen bei Timm Langhoff angekommen. Der Industriekeramiker setzt einen Fuß auf ein Brett – eine Drehscheibe wird in Gang gesetzt. Sie schnurrt, während der Keramiker mit seinen Händen eine Schale formt. Die Schale, an der Lilis Herz hängt, nimmt so langsam Formen an. Die riesigen Fensterscheiben lassen das Licht hinein. In der Halle ist es angenehm kühl. Der Keramiker formt den Unterbau des »Schinkelkorbes«, benannt nach dessen Designer Karl Friedrich Schinkel.
»In meinem Buch soll Lili einmal in einen hineinbeißen, bevor sie ihre Ausbildung zur Keramikerin beginnt«, erklärt Saller. »Denn Porzellan ist hart, nur Diamanten sind härter.« Lili stellt dann auch fest, dass das Porzellan keinen eigenen Geschmack hat – vielleicht auch ein Grund, es als Teller und Tassen zu benutzen, meint Tom Saller.
FLUCH Hart ist auch das Schicksal von Lili. Gleichaltrige ziehen sie nicht an, sie lernt nachmittags beim Rabbiner, geht mit dem Hund spazieren, interessiert sich für japanische Kalligrafie und Teezeremonie. Später macht sie einen Flugschein und lässt sich auf der Kunstgewerbeschule in Halle ausbilden.
Doch sie ist zwischen verschiedenen Identitäten hin- und hergerissen: Sie fühlt sich als Jüdin, aber auch als Japanerin, empfindet sich ebenso als Kind wie als Erwachsene. Ihr Rabbiner erklärt ihr die Bedeutung ihres Namens, indem er ihn von der biblischen Figur der Lilith ableitet: todbringend.
Dieser »Fluch« begleitet Lili fast ihr ganzes Leben. Sie fühlt sich verantwortlich für den Tod ihrer Mutter – da sie sie womöglich mit der Spanischen Grippe angesteckt hat. Ihr Vater, der sich eine Gemeinschaft wünscht, möchte, dass sie in einer jüdischen Gemeinde ihr Zuhause findet – was ihr aber verwehrt bleibt, da ihre Mutter katholisch war. Jedoch kann sie sich nicht entschließen zu konvertieren.
Für Lilis Vater, Jakob Cohen, jedoch ist gerade die jüdische Gemeinschaft wichtig. Er stammt aus einer Bauernfamilie; mit 14 Jahren verlässt er seine Heimat. Auf der Wanderschaft nach Berlin genießt er es immer wieder, unterwegs in Synagogengemeinden aufgenommen zu werden. Später ändert er seinen Namen in Kuhn.
»Glücklicherweise fand ich in Irith Fröhlich von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf eine kompetente Frau, die mir bei dem jüdischen Hintergrund half«, sagt Tom Saller. Er sei sich bereits »ziemlich am Anfang« seiner Romanidee darüber klar gewesen, dass das Judentum darin eine große Rolle spielen würde. »Ich wollte dem Antisemitismus etwas entgegnen«, sagt er. Außerdem habe er sich schon länger mit der jüdischen Religion beschäftigt und habe viele Freunde in der jüdischen Gemeinde.
Marguerite Friedlaender ist vor allem für ihre »Ringmoccatasse« berühmt.
Lili ergreift schließlich die Chance, in Halle auf der Burg Giebichenstein die Kunstgewerbeschule zu besuchen, die seinerzeit mit der KPM eine Kooperation einging. Dort begegnet die Romanfigur der deutsch-jüdischen Keramikerin und Porzellangestalterin Marguerite Friedlaender (1896–1985), von der Lili viel lernt. Mit ihrem eleganten Design hat die vom Bauhaus geprägte Künstlerin KPM nachhaltig geprägt. Sie »katapultierte die KPM in die Gegenwart – und sorgte für eine Kehrtwende in der deutschen Porzellangeschichte«, heißt es auf der KPM-Webseite.
Marguerite Friedlaender ist in Sallers Roman für das Geschirr-Service »Hermes« verantwortlich – ebenjenes, dessen Siegel überhaupt zu der Romanidee führte.
Unmittelbar nach der NS-Machtübernahme wurde Marguerite Friedlaender auf Druck der Nationalsozialisten wegen ihrer jüdischen Herkunft entlassen. Sie musste Halle und Berlin verlassen und emigrierte zunächst in die Niederlande und später in die USA.
Die bereits entwickelten Entwürfe der »Flugzeugtasse«, deren Untertasse als offener Kreisring ausgeformt war und die Friedlaender selbst als »Ringmoccatasse« bezeichnete, wurden noch bis 1935 bei KPM hergestellt, wie auch das Geschirrservice »Halle« und »Burg Giebichenstein« bis Kriegsbeginn weiter produziert wurde, nach 1933 allerdings, ohne den Namen der jüdischen Designerin zu nennen.
KOMPLEX Weiter geht es bei der Führung. Erst jetzt kommt der Bereich des Blautauchens an die Reihe, in den das Porzellan gehalten wird, damit Sprünge ersichtlich werden. Dann geht es durch den Glasurbereich und an den modernen Öfen vorbei. Gelernt habe Tom Saller, dass »Porzellan ein fantastischer und immer noch klein wenig geheimnisvoller Werkstoff« sei, der eine mehr als 1000 Jahre alte, weit über Europa hinausreichende komplexe Geschichte hat.
Am Ende der Besichtigungstour ist der Buchautor erleichtert. Denn: »Es stimmt alles, was ich in dem Buch über das Handwerk geschrieben habe.« Eine neue Leidenschaft behält er seitdem bei: Immer wenn er irgendwo Kaffee trinkt, dreht er die Tasse um, um sich das Siegel anzuschauen.
Tom Saller: »Ein neues Blau«. List Verlag, Berlin 2019, 416 S., 20 €