»Heideggers Testament«

»Die Substanz war nazistisch«

Lutz Hachmeister über den Philosophen, den »Spiegel« und die Bundesrepublik

von Rüdiger Suchsland  10.03.2014 17:11 Uhr

»Antijüdischer Zivilisationskritiker«: Martin Heidegger Foto: dpa

Lutz Hachmeister über den Philosophen, den »Spiegel« und die Bundesrepublik

von Rüdiger Suchsland  10.03.2014 17:11 Uhr

Herr Hachmeister, 1966 führten Rudolf Augstein und der ehemalige SS-Hauptsturmführer Georg Wolff für den »Spiegel« ein Interview mit dem Philosophen Martin Heidegger, in dem er über sein Verhältnis zum Nationalsozialismus sprach. Sie haben diesem Interview ein ganzes Buch gewidmet. Wie kamen Sie auf dieses Thema?
Vor allem durch intuitives Interesse. Da gibt es bestimmt eine frühe Prägung, die man selbst nicht ergründen kann. In diesem Fall habe ich das als Abschluss einer Trilogie betrachtet. Der erste Teil war meine Habilitation über den SS-Führer Six, der zweite das Buch über Schleyer und die Rote Armee Fraktion, und jetzt eben Heidegger und der »Spiegel«. Der gemeinsame Nenner ist sicher die Situation der deutschen Universitäten Anfang der 30er-Jahre und die Konfrontation dieser verunsicherten bürgerlichen Institution mit den revolutionären NS-Studenten. Im Februar 1933 musste jeder sich fragen: Wie verhalte ich mich jetzt? Da ist Heidegger ein berühmtes Beispiel für die Kapitulation vor der Stärke dieser Bewegung. Das hat mich immer beschäftigt.

Wie typisch war Heideggers Verhalten? Und wofür stand es?
Im Großen und Ganzen ist das Verhalten dieser »Konservativen Revolutionäre« – Carl Schmitt, Arnold Gehlen, Hans Freyer, Heidegger und andere – ähnlich. Sie sagten sich: Diese Chance, endlich mit allem aufzuräumen, was uns nicht passt, die nehmen wir wahr. Bei Heidegger war es vor allem das Bestreben, eine Art Vorherrschaft der völkischen Universitätsphilosophie herzustellen. Dafür entwickelte er konkrete Hochschulreformpläne.

Wie wichtig ist der Antisemitismus für Heidegger?
Das, was Goebbels über den Journalismus sagte, hätte Heidegger genauso sagen können: die Gleichsetzung von »jüdischem Geist«, »Großstadt«, »Journalismus«, »Rotationssynagogen« – da ist er ganz antijüdischer Zivilisationskritiker des 19. Jahrhunderts. Ich glaube, dass es ein Prärogativ seiner Existenz war. In diesem Sinne war er Antisemit. In den Briefen an seine Frau kommt Derartiges sehr häufig vor: »Leider« seien seine besten Schüler Juden. Er muss es anerkennen. Aber Juden in der Universitätsphilosophie hat er bis hin zu übelsten Denunziationen zurückzudrängen versucht.

Sie versetzen den Leser in die späte Adenauerzeit und schildern, wie eine Fotografin, die aus einer Widerstandsfamilie kommt, beim »Spiegel« zusammensitzt mit einem, der möglicherweise der Henker ihrer Schwester war. Wie hielt man das aus?
Aber das ist doch sehr signifikant für die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft, vielleicht auch für die DDR: diese Atmosphäre aus gleichzeitigem Verdächtigen und Verschweigen. Wenn ich in den 60er-Jahren einen Dorfpolizisten getroffen habe, wusste ich nicht, ob er als Mitglied einer Einsatzgruppe an der Ostfront Juden erschossen hat. Da trifft der berühmte Filmtitel »Die Mörder sind unter uns« zu: Man hatte eine Ahnung, aber durch die Bewältigung des alltäglichen Lebens wurde es kaum thematisiert. Dieses Bewusstsein: Wir leben in einer Gesellschaft mit Mördern und Massenverbrechern, und gleichzeitig das Bedürfnis nach Wiederaufbau, der Wunsch, eine »normale« Nation zu sein – das lässt sich nicht voneinander trennen.

In Westdeutschland konnte man nicht leben, ohne sich irgendwie damit zu arrangieren, dass so viele alte Nazis herumliefen?
So ist es. Das war die Regel. Das Spezifische beim »Spiegel« ist die sehr strategische Einbindung geheimdienstlichen Potenzials aus dem NS-Staat zu politischen Zwecken. Augstein hat ganz genau gewusst: Jenseits aller moralischen Erwägungen – wenn ich diese Leute habe, bekomme ich andere Kontakte, um Konrad Adenauer als Kanzler zu stürzen und nebenbei noch Franz Josef Strauß zu erledigen – das findet man bei anderen Blättern nicht. Augstein hat beschlossen: Alles, was diesem Ziel nutzt, unterhalb der Ebene von Adolf Eichmann, ist mir recht.

Forschungen wie Ihre führen zu dem Gesamteindruck: Die ganze Bundesrepublik war eigentlich durchdrungen von Nazi-Maulwürfen, die unter der demokratischen Oberfläche ihre eigenen Netzwerke pflegen. Ist dieser Eindruck richtig, oder ist das eine Form von Paranoia?
Das ist vollkommen richtig. Die Substanz der Bundesrepublik ist bis in die 80er-Jahre nationalsozialistisch. Das ist das Ergebnis nicht nur meiner Forschungen. Dazu muss man zwei Dinge hinzufügen: Auch der Nationalsozialismus kommt nicht aus dem Nichts, sondern hat eine Vorgeschichte. Also muss man bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Und natürlich gibt es einflussreiche Remigranten bis hin zu Willy Brandt – aber dass er Kanzler wird, passierte nicht zufällig erst nach der Studentenrevolte. Trotzdem: Die ideologische Aufladung der Modernisierung und Industrialisierung des 19. Jahrhunderts im Nationalsozialismus ist die Basis für die moderne Bundesrepublik.

Um das noch deutlicher zu machen: Was meinen Sie mit »Substanz«?
Der mentale Haushalt, der Habitus, durchaus im Sinne eines nationalen Sozialismus – der sich nicht mehr in der Idee einer Weltmacht deutscher Nationalität ausdrückt, sondern in der Idee, mit den Franzosen gemeinsam eine starke Position in Europa einzunehmen. Das hat Adenauer erfunden, und es hat sich mit den NS-Eliten durchsetzen lassen – gegen den kulturellen Amerikanismus mit seiner Popkultur und natürlich gegen den »jüdisch-bolschewistischen« Erzfeind. Diese Kernjahrgänge der jungen, aggressiven, intelligenten Nationalsozialisten waren 1908, 1909, 1910. Wenn die im Alter von 65 Jahren aus ihren Berufen ausgestiegen sind, war das erst Mitte der 70er-Jahre. Nicht zufällig kurz vor dem »Deutschen Herbst«, wo sich alles noch einmal symbolisch entlädt. Das macht man sich nicht klar. Man denkt, dass die in den 50er-Jahren allmählich verschwunden sind, wie die Globkes. Das war aber nicht so.

Heideggers Interview im »Spiegel« fußte auf der Absprache, es erst nach seinem Tod zu publizieren. Finden Sie es als Journalist richtig, diese Absprache zu treffen?
Nein, nein, das ist völlig grotesk. Das hört sich nach dem Papst an oder irgendwelchen Potentaten, aber nicht nach einem Philosophen. Das widerspricht komplett dem diskursiven Prinzip der Philosophie und des Journalismus, auch des »Spiegel«.
Wie ist der »Spiegel« mit Ihren Recherchen umgegangen?
Ich habe ja in den 90er-Jahren damit angefangen. Damals war das Abblocken extrem stark ausgeprägt. Da kamen die üblichen Argumente: »Solche Leute hat es überall gegeben«, »Das waren ja nur kleine Chargen«, »Die hatten sich ohnehin geändert« – alles an Ausflüchten, die der »Spiegel« anderen vorgeworfen hätte, hat er selbst benutzt. Das hat sich mittlerweile verändert. Also: Es gab keine Restriktionen im Archivzugang. Gern gehabt haben sie es trotzdem nicht, nehme ich an.

Mit dem Sachbuchautor, Filmproduzenten und Medientheoretiker sprach Rüdiger Suchsland.

Lutz Hachmeister: »Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel und die SS«, Propyläen, Berlin 2014, 368 S., 22,99 €

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