Der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko ist tot. Er starb am Samstag im Alter von 84 Jahren in den USA, wo er seit den 90er-Jahren russische Literatur an der Universität von Tulsa im Bundesstaat Oklahoma lehrte. Berühmt geworden war Jewtuschenko als »Dichter der Tauwetter-Periode« unter Stalins Nachfolger Nikita Chrustschow.
Jewtuschenko veröffentlichte mehr als 150 Gedichte, darunter Stalin-kritische Verse bereits zu Lebzeiten des sowjetischen Diktators. Insbesondere das von ihm verfasste epische Poem »Babi Jar« machte Jewtuschenko weltberühmt. Der Komponist Dmitri Schostakowitsch legte es kurz darauf seiner 13. Sinfonie zugrunde.
verse Hatten Intellektuelle die Schrecken von Babi Jar bereits unmittelbar nach der Befreiung von Kiew thematisiert – darunter die jüdischen Schriftsteller Wassili Grossman, Izik Kipnis und Ilja Ehrenburg –, wurden die Texte im Zuge von Stalins antisemitischer Kampagne in die Schubladen verbannt. Erst Jewtuschenkos Gedicht brach 1961 das Schweigen und löste damit in der sowjetischen Öffentlichkeit wahre Tumulte aus.
Der Text, der mit den Worten »Über Babi Jar steht kein Denkmal …« beginnt, erinnert an das Massaker in der Schlucht Babi Jar bei Kiew, in der die Nazis im September 1941 innerhalb von zwei Tagen 34.000 Kiewer Juden erschossen und verscharrten.
In den schlichten wie ergreifenden Versen erwähnt Jewtuschenko mit keinem Wort, dass die Juden in Babi Jar durch Deutsche ermordet wurden. Sein Gedicht richtet sich ausschließlich gegen den russischen Antisemitismus und die fehlende Gedenkkultur in der sowjetischen Gesellschaft.
narrativ Nichts sollte nach dem Krieg an den organisierten Massenmord an 100.000 Juden in Babi Jar erinnern – ein Teil der Schlucht wurde zugeschüttet, darauf bauten die sowjetischen Behörden zwei Autobahnen. In einem anderen Areal entstanden Neubauten und ein Park. Später beschloss die Stadtverwaltung, den größten Teil des Geländes als Mülldeponie zu nutzen.
Im sowjetischen Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges fand die Schoa keinen Platz. Juden wurden aus der Gesamtmasse der »friedvollen sowjetischen Bürger, der Faschismusopfer« nicht herausgehoben. Das erste offizielle Denkmal zur Erinnerung an die Ermordeten wurde 1976 errichtet; 1991 wies die ukrainische Regierung die Opfer in Gedenktafeln erstmals explizit als Juden aus.
Spätestens mit »Babi Jar« wurde Jewtuschenko zur Stimme der Jugend und zur rebellischen Dichter-Ikone der Entstalinisierung. Im Ausland war er ebenso populär wie in der Sowjetunion, sodass das Regime ihm nichts anhaben konnte.
lesungen Nachdem er 1968 die Niederschlagung des Prager Frühlings kritisiert hatte, verlor er seinen Job als Redakteur bei der Zeitschrift »Junost«. Dennoch ließ sich Jewtuschenko nicht den Mund verbieten. Auch in der Breschnew-Zeit erhob er immer wieder energisch seine Stimme.
Mit seinen Lesungen füllte er in Russland Säle und Stadien; seine Beliebtheit wurde oft mit der des volkstümlichen Dichters Wladimir Majakowski verglichen. Er unterstützte Michail Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika und war Angeordneter in Russlands erstem frei gewählten Parlament. Der vielfach ausgezeichnete Poet schrieb auch Prosa und arbeitete als Regisseur (Stalins Begräbnis, 1990) und Drehbuchautor. Im postsowjetischen Russland beklagte er die »kommerzielle Zensur« und die »McDonaldisierung der Kultur«.
Nach einer russisch-orthodoxen Trauerfeier in den USA wird Jewtuschenko laut seinem letzten Willen im Moskauer Literatenvorort Peredelkino begraben. Dort besaß der Schriftsteller unweit vom Sommerhaus Boris Pasternaks eine Datscha, die er vor wenigen Jahren dem russischen Staat als Dichtermuseum geschenkt hat.