Essay

Die Steine von Berlin-Mitte

Vom Friedhof in den Tod: Nebenan stand das Jüdische Altersheim, das ab 1942 als Sammellager diente. Von dort aus wurden 55.000 Menschen in die Lager deportiert. An sie erinnert dieses Mahnmal vor dem Gelände. Foto: ddp

Ein 250 Jahre alter jüdischer Friedhof zieht plötzlich die Aufmerksamkeit auf sich, denn ein »architect of the holocaust«, wie die New York Times ihn nennt, ein lange gesuchter Naziverbrecher also, liegt dort seit 1945. Dieser Friedhof barg und, obwohl »unsichtbar« gemacht, birgt noch immer die Elite des vertriebenen Wiener, des neuen Berliner, des Brandenburgischen Judentums seit der Neugründung der Gemeinde im Jahr 1671. Er wurde bis 1827 belegt, und mit königlicher Genehmigung sah er auch später noch einige Bestattungen.

Nun, solche Fakten nimmt man als historisch bemerkenswert gern hin, belässt es dabei und fragt nicht weiter nach denen, die dort nach Recht und Gesetz Israels ruhen. Ihre Zahl wird auf 7000 geschätzt, und es standen dort bis 1943 etwa 3000 Steine und Marker aus Holz.

platzbedarf Angesichts der Entdeckung der bis dato unbekannten Ruhestätte von »Gestapo-Müller« äußert sich jetzt starkes Unbehagen, und man sieht die Beerdigung des berüchtigten Massenmörders zusammen mit mehreren Tausend Toten der letzten Kriegswochen als die ärgste mögliche Schändung eines jüdischen Friedhofs. Treffliche, ja zutreffende Worte, bei denen es bleibt. Denn der Zeitgeist äußert sich durch anonyme Internet-Kommentatoren, die die unterschiedlichsten, teils abstrusen Perspektiven einnehmen. Nur nicht die Perspektive der davon betroffenen Menschen.

Auf dem Friedhof Große Hamburger Straße sind einzig einige barocke Steine der Neubegründer der Gemeinde erhalten. Sie waren in den 1880er-Jahren in die Südmauer eingefügt worden, um sie zu schonen. Das hat sie gerettet, denn so störten sie den Platzbedarf von Gestapo und Soldateska nicht. 1943 ließ die Gestapo alle Grabmale abräumen. Die Bewacher der im angrenzenden Altersheim zwecks Deportation eingepferchten Menschen brauchten freie Bahn zu ihrer Ertüchtigung auf 5900 Quadratmetern.

Stellvertretend für die 1943 beseitigten 3000 Grabmale fungiert das (nunmehr vierte) Denkmal für Moses Mendelssohn – seinem Grab vermutlich ziemlich nahe aufgestellt. Dieser Gedenkstein steht über einem lang gestreckten Massengrab, das sich seit 1945/46 in Süd-Nord-Richtung längs durch den Friedhof zog (und immer noch unsichtbar zieht). Mit der Umgestaltung zur Grünanlage wurde es 1973 eingeebnet. Aber es gibt Fotos davon, zahlreiche kleine Grabhügel mit Blumenschmuck und Kreuzen; Aufnahmen, die seither mehrfach veröffentlicht worden sind.

»neubelegung« Längst bekannte Fakten also. Natürlich kannte und kennt sie die Jüdische Gemeinde, die in Ost und die in West, die seit dem 1. Januar 1991 vereinte von ganz Berlin. In den späten 8oer- und 90er-Jahren erschien Jahr für Jahr im Berliner Tagesspiegel die Gedenkanzeige einer »Maria« für ihren Vater, der in einem dieser Massengräber ruht. »Maria« forderte zugleich das öffentliche Gedenken daselbst für alle »2427« im Sommer und Herbst 1945 bestatteten Militär- und Zivilpersonen. Das waren Soldaten, SS-Männer, Volkssturmangehörige, Angestellte der unweit gelegenen Behörden, der Reichskanzlei und so weiter, sowie Hunderte von Zivilisten; viele namentlich benannte, viele unbekannte Tote der letzten Kriegswochen. »Gestapo-Müller« ist nur einer dieser Toten, die dort bestattet sind.

1945 war es so naheliegend wie bequem, eine kurz zuvor beseitigte jüdische Begräbnisstätte, die im Lauf der Jahrhunderte von der Stadtmitte umschlossen worden war, für ein Massenbegräbnis zu nutzen. Jahrzehntelang hat die Schändung, Zerstörung und »Neubelegung« ihrer Ruhestätte nur die Jüdische Gemeinde verstört. Angesichts aber der 55.000 Berliner und der Millionen anderer jüdischer Ermordeter mochte die Schändung von Friedhöfen und Synagogen fast als vernachlässigbar erscheinen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Gemeinde einst Fortune bei der Bewahrung von 1948 noch vorfindlichen rund 80 Steinen und Bruchstücken hatte, wie sie der Fotograf Abraham Pisarek am Freitag, 10. September 1948, anlässlich der Rückgabe des Friedhofs an die Jüdische Gemeinde festhielt: Der Vorsitzende Hans Erich Fabian betrachtet die aufgestapelten und aneinandergelehnten Grabmale.

ruherecht Nun steht man vor einem anderen Problem. Bleibt jetzt nicht mehr nur ein großer Name mit diesem Friedhof verbunden, sondern werden es zwei sein? Zwei stellvertretende Namen: der des »Weltweisen« R. Mosche mi-Dessau und der eines Massenmörders? »Gestapo-Müller« genießt die ungestörte, »ewige« Ruhe. Und genießt sie gleich zweifach: zum einen, weil das »Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« seit dem 1. Januar 1993 auch für die neuen Bundesländer gilt. »Unter den Schutz dieses Gesetzes fallen auf dem Alten Jüdischen Friedhof … die Gräber von Kriegstoten aus dem Jahre 1945«, schreibt am 8. März 1993 der damalige Senator für Stadtentwicklung der Jüdischen Gemeinde. Und zum anderen, weil er auf einer jüdischen Begräbnisstätte liegt, deren Toten die dauerhafte Ruhe gewährleistet ist.

Eine sehr belastende Situation. Wie nun würdevoll mit dieser Sachlage umgehen? So fragt sich die Jüdische Gemeinde zu Berlin. Eine Antwort auf diese bedrängende Frage lautet: Seit 2008 hat der Friedhof wieder an ursprünglicher Würde gewonnen, hat die ihm innewohnende »Jüdischkeit« wieder sichtbarer werden lassen. Das Areal ist würdig umgrenzt, zwei schöne barocke, fein restaurierte Steine stehen am Eingang, eine Infotafel klärt die Besucher auf. Die geretteten, lange ausgelagerten Barocksteine der Begründer sind wieder in die Südmauer eingefügt und schützend überdacht.

Diese erfreuliche Entwicklung gilt es innerhalb und außerhalb des Friedhofs zu stärken. Nicht länger sollte der Name Moses Mendelssohn der einzig bekannte und genannte Name bleiben. Es sind so viele Namen mehr, die es auch heute verdienen, genannt und uns erneut vertraut zu werden, berühmte wie kaum bekannte. Erinnern wir uns dieser Menschen und beschweigen den Mörder.

inschriften Woher aber sollten wir jene kennen, wenn doch der Ort aller äußeren Zeichen beraubt ist? Elieser Leiser Landshuth darf uns endlich dazu verhelfen. Der Buchhändler, Privatgelehrte und Friedhofsinspektor (1817–1887) hatte die Inschriften sämtlicher 2799 Mitte des 19. Jahrhunderts noch lesbaren Steine abgeschrieben, ihre Namen, ihre Lebensdaten und Nachrufe. Sie sollten damals gedruckt werden. Sie sind nicht gedruckt worden. Seine Aufzeichnungen aber sind glücklicherweise erhalten. In den 30er-Jahren hat ein anderer, ähnlich bescheidener Privatgelehrter, der nicht eines natürlichen Todes sterben durfte, Martin Koppenheim, zahlreiche Fotografien von Steinen gefertigt und Landshuths Notate ergänzt. Auch diese Aufnahmen sind in Berlin und Jerusalem vorhanden. Und vor zehn Jahren ist es einer scharfsinnigen Studentin der Judaistik überzeugend gelungen, die genaue Position fast aller Steine auf dem gesamten Gelände auf den Meter genau zu bestimmen.

Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand und will gezogen werden: Die Fotos der Steine und deren Inschriften müssen in einem Buch versammelt, übersetzt und erläutert, würdig und attraktiv veröffentlicht werden. Sie sollten zudem auch im Internet weltweit zugänglich gemacht werden. Daraus entwickelt sich neues, nicht nur lokalhistorisches und genealogisches, Interesse und Wissen.

wiederaufbau Was könnte darüber hinaus an Ort und Stelle sichtbar gemacht werden? Es muss nicht viel sein. Wer ein riesiges verschwundenes Schloss neu errichtet, der mag wohl auch über einigen Grabstätten deren Stelen wieder aufrichten. Auch wenn deren Gestein ein anderes ist, so werden die ihm eingeschriebenen Worte doch eben das sagen, was sie vordem gesagt haben.

Erst wenn diesem Ort die Kenntnis und die Ehrung seiner Namen auf diese Art und Weise wiedergegeben sein werden, kann sich der Umgang mit den hier widerrechtlich Bestatteten so gelassen wie souverän dem Gesetz zur Erhaltung der Ruhe von »Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« widmen und zugleich davon emanzipieren. Man kann und muss dann auch jene Namen, soweit bekannt, öffentlich verzeichnen und sie einem Gedenken überlassen. Halten wir fest: Diesem Friedhof sind gewiss auch Opfer der letzten Kriegsmonate, keineswegs nur deren Verbrecher, zugefügt worden. Aber dieser »Gute Ort« ist kein Friedhof, der von einem solchen Gesetz geschützt werden müsste. Vielmehr verdankt sich seine Dauer dem Lebensmut und der Überlebenskraft der seit Jahrhunderten hier Ruhenden und ihrer Nachfahren.

Michael Brocke ist Direktor des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Hermann Simon ist Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.

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