Eine Frau verhindert die blindwütige Vernichtung der Juden. Beherzt tritt Königin Esther vor ihren Gemahl, den Perserkönig: Entschlossen wird sie die Juden im Persischen Reich retten. Großwesir Haman wollte alle töten, das bezahlt er nun mit seinem Leben, und die Juden dürfen ihre Feinde ausschalten. Bedrückend aktuell scheint das Renaissancebild Hans Burgkmairs, der die biblische Heldin in einer venezianischen Fantasiekulisse agieren lässt, auch wegen des couragierten weiblichen Ungehorsams in Persien, dem heutigen Iran. Esther ist es untersagt, ihren Ehemann zu stören. Doch sie ignoriert dies.
In der Städel-Schau Holbein und die Renaissance im Norden ist das Gemälde prominent platziert. Der Hinweis auf das Purimfest fehlt nicht. Vier Jahre lang wurde die Ausstellung mit 180 Werken vorbereitet, einige davon sind exakt 500 Jahre alt. Verblüffend gegenwartsnah wirken gleichwohl geistige Einstellungen und figürliche Darstellungen. Darunter die stereotype Charakterisierung des hakennasigen maß- und gottlosen Juden. Der Besucher erstarrt, doch die Schau kontextualisiert ja bloß die normative Kraft des Faktischen. Juden beschäftigen die Kunstwissenschaft abwechselnd als die Schönen und die Schurken.
Biblische Juden erfahren Wertschätzung – anders als Zeitgenossen.
Jedes Exponat der Holbein-Schau stößt das Tor zu einer Geschichte auf. Wie befruchten italienische und niederländische Innovationen deutsche Kunst? Geografischer Nabel der vergleichend angelegten Betrachtung ist Augsburg: um 1500 größer und kulturell bedeutender als München.
Mit der Fuggerkapelle ist man im Besitz des am längsten erhaltenen Renaissancebauwerks im Norden; die Brunnenfigur des Neptun gilt als älteste Bronze mit einem Körperbau nach antikem Modell. Ausgehend von Augsburger Malerprominenz, Wegbereitern und Vertretern der deutschen Renaissance, führt das Städel Meisterwerke des älteren Holbein und Burgkmairs zum Dialog: eine Premiere.
Neben biblischen Themen fesseln Bildnisse. Die Begabungen Hans Holbeins des Älteren (um 1464–1524), am Vorabend seines 500. Todestages in großem Stil geehrt, seines Sohnes Hans Holbein des Jüngeren (1497–1543) oder Hans Burgkmairs (1473–1531) stießen in der Fuggerstadt auf Auftraggeber, die gern für Kunst bezahlten. Das Porträtbild der Renaissance – idealisiert, wiewohl orientiert an der realen Erscheinung – war eine Vorstufe des Selfies. Eingeläutet wurde die Epoche wirklichkeitsnaher Sicht auf Mensch, Tier und Architektur, also beseelte wie unbeseelte Welt, mit einem humanistisch erkenntnisfreudigem Fundament.
Die Renaissance steht für detailverliebten Porträtrealismus ebenso wie für die Erforschung des großen Ganzen – sie markiert eine »Zeitenwende«. Auf den damaligen kulturellen Umbruch münzt das Städel dieses Schlagwort, das jetzt Konjunktur hat im Kontext von Krieg.
Unterdessen veränderte sich auch drastisch die Perspektive auf Juden und ihre Teilhabe im Kunstbetrieb. Spätestens seit der documenta ist die Diskussion darüber entbrannt. Die Städel-Schau beleuchtet neben der Verachtung die Anerkennung. »Drei gute Jüdinnen« vereint Burgkmair in einer Zeichnung.
Die Alten Meister arbeiten mit allen Tricks. Eine biblische Figur wird zur Vorlage der christlichen Himmelskönigin, eine andere borgt sich von einer irdischen Regentin das zeitgenössische Gesicht. So funktioniert es: Zum Antlitz der berühmten Schutzmantelmadonna des Jakob Meyer zum Hasen wird Holbein der Jüngere von einer Salome aus dem Umkreis Leonardo da Vincis inspiriert. Sein Vater wiederum lieh seiner Esther die Züge der Maria von Burgund: verstanden als Präfiguration der Muttergottes.
Jörg Breu der Ältere (um 1475/1480–1537), dessen Flügelbilder der kleinen Orgel der Fuggerkapelle (um 1520) nun erstmals Augsburg verlassen haben, ehrt derweil Juval aus dem 1. Buch Mose, der unter anderem das Zupfinstrument Kinnor populär machte, als Erfinder der Musik. Starke Typen wie diesen Juden mit Wallehaar und -bart kennen wir von Michelangelo.
Der hakennasige und maßlose Jude ist als Stereotyp präsent.
Biblische Juden erfahren in der Renaissance Wertschätzung, Zeitgenossen hingegen Verunglimpfung wie in Holbeins Frankfurter Dominikaneraltar. Eine »religiöse Propagandamaschine«, hält das Städel fest. Um ordentlich Spenden einzustreichen, verlangte der Orden eine aggressive antisemitische Bildsprache. Entwurfszeichnungen verraten, wie sie final sogar verhärtet werden musste rund um die fette Geldkatze, die einen Juden neben dem Sarkophag des Auferstandenen als verschlagenen Raffzahn stigmatisiert. Pikant: In unmittelbarer Nachbarschaft des Frankfurter Konvents befand sich das jüdische Ghetto. Gerade Kunst zog Mauern hoch.
Besonders berührt das Porträt des Ehepaares Burgkmair, das sich einen Handspiegel vorhält. Daraus aber blicken Totenköpfe zurück, umrahmt von den Worten: »Erken dich selbs«. Erst dann kann man auch andere erkennen – zum Beispiel Juden.
Die Ausstellung ist bis zum 18. Februar 2024 zu sehen. »Holbein und die Renaissance im Norden«. Städel Museum, Frankfurt am Main