Herr Gurzhy, Sie sind in Charkiw aufgewachsen. Ist Ihre Familie noch dort?
Die Familie ist größtenteils in Deutschland angekommen. Mein Cousin ist noch in der Ukraine, aber nicht in Charkiw.
Sie verfolgen ständig die Nachrichten, sind in Kontakt mit Freunden und Bekannten in der Ukraine. Wie halten Sie das aus?
Ich bin hier. Ich bin in Sicherheit. Alles, was ich erlebe, findet nur in meinem Kopf statt. Und wenn ich meine, dass es mir gerade nicht gut geht, dann denke ich an meine Freunde in der Ukraine.
Zu Beginn Ihres Kriegstagebuchs im »Tagesspiegel« beschreiben Sie, wie Sie ein Video auf Telegram sehen, in dem russische Panzer Ihre Straße in Charkiw entlangfahren. Steht das Haus noch, in dem Sie aufgewachsen sind?
Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, dass ich seit einiger Zeit keine Aufnahme aus meiner Straße gesehen habe. In diesem Bezirk haben auch meine Schwiegereltern gelebt, seit einigen Wochen sind sie in Berlin. Ich hoffe, dass ihr Haus noch steht. Aber das kann sich ändern, während wir miteinander sprechen.
Sie hatten Corona und verfolgten zu Hause zwei Livestreams gleichzeitig: »Sound of Peace« am Brandenburger Tor und »Rock für territoriale Verteidigung« aus einem Charkiwer Bunker. »Ich habe den Eindruck, dass man gern vorspulen möchte – zu dem Moment, wo der Krieg zu Ende wäre«, kommentierten Sie. Ein Konflikt mit Freunden aus der Friedensszene?
Ich habe keine Freunde in der »Friedensszene«. Was ist das überhaupt? Für die Ukraine ist klar, dass es keinen Frieden ohne den Sieg gibt, ansonsten werden die Ukrainer als Nation ausgelöscht. Und das hat mit der weißen Taube nicht viel zu tun.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie im Supermarkt sehen, dass Mehl und Pflanzenöl ausverkauft sind?
Mir ist das nicht neu, ich habe etwas Ähnliches auch schon in der Sowjetunion erlebt. Hier ist es ein bisschen absurder. Aber dieser Krieg bedeutet Stress für alle. Und falls es jemandem bessergeht, wenn er ein Päckchen Mehl kauft, dann freue ich mich für diese Person.
Sie haben mit der Gruppe »The Anti-DicKtators« den Song »Russian Warship« herausgebracht, der sich auf den inzwischen legendären Funkspruch ukrainischer Soldaten auf der Schlangeninsel bezieht.
In den ersten Wochen des Krieges hatte ich das Gefühl, dass man jetzt keine Musik mehr machen kann. Ich hatte keine Lust dazu und auch keine Zeit dafür. Ich fragte mich: Was kann man als Musiker und DJ jetzt tun? Aber dann kam diese Anfrage von dem englischen Produzenten Phil Meadley, einen Text für diesen Song zu schreiben, und auf einmal dachte ich: Das ist eine großartige Möglichkeit, als Musiker können wir auf unsere Einnahmen verzichten und Spenden sammeln, und heute ist das sogar einfacher als vor 20, 30 Jahren. Ein guter Freund von mir, Lesik Omodada aus Ternopil, hat eine Organisation gegründet: »Musicians Defend Ukraine«. Davon werden auch ukrainische Musiker unterstützt, die jetzt nicht auftreten können, weil sie kämpfen müssen. So kann man helfen, und das tut gut. Ich plane im Moment auch eine Kompilation mit jüdischen Künstlern: »Russian Warship« auf Jiddisch. »Rusishe krigshif, shif zikh in dr’erd – Jewish Voices Against Russian Aggression in Ukraine«.
Vor mehr als einem Jahr haben Sie mit Jugendlichen im Donbass Musik aufgenommen. Daraus entstand das Album »The New Donbass Symphony«. Sind Sie mit den Schülern noch in Kontakt?
Ja, manche von ihnen sind schon in Deutschland angekommen. Ich bin auch mit Jugendlichen in Kontakt, die noch dort sind, aber ich möchte ihnen oft keine direkten Fragen stellen. Mir reicht es, wenn sie schreiben, dass es ihnen gerade gut geht. Aber manchmal gibt es keinen Empfang.
2016 hatten Sie das Kompilations-Album »Borsh Division – Future Sound of Ukraine« veröffentlicht. Damals war das Interesse an ukrainischer Musik nicht sehr groß. Warum?
Als »Pussy Riot« von einem großen Musikmagazin zur Band des Jahres gewählt wurde, dachte ich: Es war eine wichtige Kunstaktion, für die die Musikerinnen auch gelitten haben und im Gefängnis gelandet sind. Aber sie haben eigentlich kaum Musik gemacht. Wenn es um Presse-Hype geht, dann spielt Geschichte hinter der Musik immer eine Rolle, und 2016 wurde sie anders wahrgenommen als heute. Da war der Maidan schon vorüber, und an den Krieg im Donbass hatte man sich im Westen schon gewöhnt. Jetzt ist die Ukraine wieder in Mode, und das Interesse an dem Album wächst.
Während des Maidan sind Sie 2014 in der Ukraine aufgetreten. Wo waren Sie?
In Kiew wurde rund um die Uhr demonstriert, in Charkiw war das viel bescheidener – nur einmal am Tag ab 18 Uhr. Aber ich habe mich entschieden, in meiner Heimatstadt Charkiw zu bleiben, für mehrere Hundert Menschen, die jede Unterstützung gebrauchen konnten.
Sie sind bis heute bekannt als Mitveranstalter der »Russendisko« – zusammen mit Wladimir Kaminer. Ist das Wort jetzt kontaminiert?
Ich habe 2014 aufgehört, mit der Russendisko öffentlich aufzutreten – wegen des Kriegs im Donbass und der Okkupation der Krim durch Russland. Wladimir Kaminer ist nach wie vor einer meiner liebsten Freunde, und ich kann mir gut vorstellen, mit ihm aufzulegen. Aber nicht als Russendisko, die Russendisko ist für mich tot, in meinen Zukunftsplänen gibt es keinen Platz dafür.
Sie haben vor Kurzem das Buch »Richard Wagner und die Klezmerband« veröffentlicht. In Berlin gibt es eine Ausstellung über den Komponisten und das »deutsche Gefühl«. Wollen Sie sich die anschauen?
Nein. Richard Wagner ist für mich ein Symbol des deutschen Antisemitismus, und ich habe kein Verlangen, mich mit Wagner auseinanderzusetzen. Ich habe im Moment andere Sorgen.
Warum taucht Wagner dann im Titel Ihres Buchs auf?
Das ist eben meine kleine Rache an Wagner, denn sein Antisemitismus ist auch ein Klischee. Und für viele Musiker und Musikhörer ist Klezmer ebenfalls ein Klischee und ein Synonym für jüdische Musik, obwohl es viel mehr als das gibt. Ich wollte in dem Buch Menschen porträtieren, die innovative, progressive Musik machen und auf sanfte Weise revolutionär sind.
Was macht Ihre Band »Rotfront« in diesen Tagen?
Nichts. Es ist eine große Band, die immer von Konzerten gelebt hat. Wir mussten wegen der Pandemie zwei Jahre Pause machen, und es ist keine Band, die sich musikalisch leicht anpassen kann. Wir können keine Lounge-Version ohne Schlagzeug für sitzendes Publikum im Jazzklub anbieten. Zu unserer Musik muss man wild zusammen tanzen und sich umarmen. Wir haben Anfragen für den Sommer, und ich hoffe, dass wir sie wahrnehmen können.
Haben Sie Pläne für Pessach?
Bisher keine. Ich kann gerade maximal 24 Stunden vorausdenken, alles ändert sich so schnell. Aber mein Wunsch zum Fest ist wohl klar. Ich wünsche mir die Befreiung – so wie alle ukrainischen Juden, alle Ukrainer und hoffentlich alle progressiven Menschen auf der Welt.
Mit dem Musiker und DJ sprach Ayala Goldmann.
Yuriy Gurzhy: »Richard Wagner & die Klezmerband. Auf der Suche nach dem neuen jüdischen Sound in Deutschland«. Ariella, Berlin 2022, 264 S., 24,95 €