Fotografie

»Die Realität zeigen«

Herr Kaganovitz, für Ihr Foto-Projekt »Humans of Tel Aviv« stellen Sie regelmäßig Menschen mit dem Satz »Meet …« vor. Also: »Meet Erez Kaganovitz« – was können Sie über sich erzählen?
Das ist eine schwierige Frage, denn es gibt ja einen Grund, weshalb ich hinter der Kamera stehe. Aber gut: Ich komme aus Haifa und lebe seit etwa zwölf Jahren in Tel Aviv. Ich habe internationale Beziehungen und Kommunikation an der Hebräischen Universität studiert und reise viel in der Welt herum. Ich bin Fotograf und Geschichtenerzähler.

Warum haben Sie mit »Humans of Tel Aviv« angefangen?
Wenn ich unterwegs bin und gefragt werde, woher ich komme – nämlich aus Israel –, verändert sich meistens der Gesichtsausdruck. Dann gibt es eine Menge Fragen. Wie? Du kommst aus Israel? Ist das nicht der Ort, an dem Leute ständig durch Explosionen sterben? Dann folgen Unterhaltungen über den Nahostkonflikt, über BDS oder so. Ich möchte diese Menschen dann immer mit nach Tel Aviv nehmen und ihnen zeigen, wie multikulturell und vielfältig die Zivilgesellschaft ist. 2012 oder 2013 stieß ich dann auf »Humans of New York«, und das war wie ein Heureka-Moment für mich, denn ich sagte mir: Das ist genau das, was ich tun muss, wenn ich eine andere Perspektive auf die israelische Gesellschaft zeigen will. Ich will die Realität zeigen. Wenn die Menschen die Komplexität in Israel sehen und verstehen, dann erfahren sie, wie es ist, in Israel zu leben.

Wie viele Geschichten haben Sie gesammelt?
Bisher mehr als 2000. Es ist interessant, faszinierend und umwerfend – unterm Strich sind wir doch alle Menschen. Wir teilen dieselben Gefühle. Wenn man die Fähigkeit hat, den Menschen zuzuhören, hat man auch die Fähigkeit, sein Herz zu öffnen. So können wir diese Geschichte tatsächlich erzählen und andere Menschen, andere Kulturen und andere Perspektiven besser verstehen.

Nun stellen Sie Fotos Ihres Projekts »Humans of the Holocaust« aus. Was ist die Geschichte dahinter?
2016 habe ich ein Bild von Enkeln von Holocaust-Überlebenden veröffentlicht, die sich die Nummern, die ihren Großeltern in Konzentrationslagern tätowiert wurden, auf den Unterarm haben tätowieren lassen. Als ich dieses Bild veröffentlichte, ging es viral. Ich bekam viele Nachrichten von Leuten, die mich fragten, warum sich diese jungen Leute das antun. Auch Menschen aus der arabischen und muslimischen Welt schrieben mir und sagten, dass dies das erste Mal sei, dass sie vom Holocaust hörten. Dann gab es noch diese Umfrage der Claims Conference, die ergab, dass 66 Prozent der amerikanischen Millennials noch nie etwas über Auschwitz gehört hätten.

Wie haben Sie reagiert?
Nun, ich bin Jude, mein Großvater hat die Schoa überlebt, ich bin mit diesen Geschichten aufgewachsen. Irgendwie konnte ich es diesen jungen Millennials nicht so sehr übel nehmen. Als ich in ihrem Alter war, wollte ich keinerlei Verbindung zum Holocaust haben, aber Sie müssen sich eben meinen familiären Hintergrund vergegenwärtigen. Ich habe darüber nachgedacht: Wenn ich das ausblenden wollte, warum sollte sich jemand aus Lexington, Kentucky, damit befassen wollen? Dann wurde mir klar, dass wir zeigen müssen, was während dieser Zeit in der Geschichte passiert ist – und zwar auf zeitgenössische Art und Weise.

Durch die sozialen Medien also?
Was ich versuche, ist, diese jungen Leute an den Tisch zu bringen. Denn, ob es uns gefällt oder nicht, wir kämpfen um Aufmerksamkeit. Wir müssen versuchen, die junge Generation besser zu informieren und aufzuklären, denn wenn wir es nicht tun, werden es nicht 66 Prozent sein, sondern 80, 90 oder 95.

Ein Bild Ihrer Ausstellung zeigt Dugo Leitner, der einen riesigen Gelben-Stern-Luftballon umarmt. War es seine Idee oder Ihre?
Das Allererste, was Dugo mir am Telefon erzählte, war, dass das Einzige, was ihn in Auschwitz am Leben hielt, sein Sinn für Humor gewesen war. Er ist so ein optimistischer Mensch. Uns beiden war also klar, dass sein Bild etwas anders sein müsste. Und so kamen wir auf die Idee mit dem gelben Ballon. Wenn man über dieses Bild nachdenkt, ist es nicht nur bewegend, sondern es zeigt einen glücklichen, stolzen Juden, der diesen Ballon umarmt. Dugo erzählte mir, wenn er es geschafft hat, den Holocaust mit seinem Optimismus zu überleben, ist er in der Lage, alles zu überwinden. Dugo ist so ein erstaunlicher Mensch. Er ist so lebensfroh und optimistisch, und er fordert das Symbol zurück, das ihn zu einem Untermenschen gemacht hat. Er stellt es auf den Kopf und sagt: »Hört zu, ich bin ein stolzer Jude. Ich habe es geschafft zu überleben, und ich habe um ein Bild gebeten.«

Es braucht bestimmt auch Fingerspitzengefühl.
Manchmal muss ich mich selbst daran erinnern, dass ich Bilder von Holocaust-Überlebenden mache. Sie sind zwischen 85 und 90. Fotografen möchten immer verschiedene Blickwinkel haben.

Welches Bild war für Sie am schwierigsten?
Das von Mihail Sidko, des letzten Überlebenden von Babyn Jar. Es zeigt ihn inmitten von Patronenhülsen. Wenn Menschen an den Holocaust denken, denken sie gewöhnlich an die Gaskammern, an Viehwaggons, vielleicht seltener an Kugeln. Als ich Mihails Interview las, erfuhr ich, dass zwei Millionen Juden im Holocaust durch Kugeln ermordet wurden. Ich habe es geschafft, Mihail davon zu überzeugen.

Wie sind die Reaktionen auf das Bild?
Einmal war ich bei einer Schulklasse in Palm Beach und fragte einen Schüler, was er darüber denkt. Seine Antwort kam sehr schnell: »Mass Shooting«. Ich hatte noch nie über Massenerschießungen im Zusammenhang mit den Ereignissen in den USA nachgedacht. Aber die Tatsache, dass dieser Schüler dieses Bild gesehen hat, hat seine eigene Bedeutung, und er hat seine eigenen Gedanken und Ideen. Und er hat es geschafft, dieses Bild, das an den Holocaust erinnert, mit etwas in Verbindung zu bringen, das in seinem Leben tatsächlich passiert ist.

Sie waren auch in Dachau und haben Schülerinnen und Schülern ihre Bilder gezeigt. Wie war das?
Für mich ist das eine der wichtigsten Aufgaben. Denn in Deutschland gibt es ein paar Dinge, die in meinen Augen im Moment eine ziemlich schlimme Kombination ergeben. Die jüngsten Ergebnisse der AfD, die Tatsache, dass eine Umfrage der Anti-Defamation League vom Mai 2023 zeigt, dass zwölf Prozent der Deutschen antisemitische Ansichten haben und die junge Generation müde wird, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Deswegen müssen sie die Geschichte von Dugo hören und erfahren, warum er den gelben Ballon hält. Oder die von Mihail. Oder die von Leila Jabarin, die in einem Konzentrationslager in Ungarn geboren und versteckt wurde, später nach Israel auswanderte, sich als junge Frau in einen muslimischen Mann verliebte und zum Islam übertrat. Sie lebt in Los Angeles und spricht darüber, dass man sie als Kind töten wollte, weil sie Jüdin war. Heute gibt es Leute, die sie töten wollen, weil sie Muslimin ist. Sie erzählt von dem Attentat auf die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh und vom Terroranschlag auf Moscheen in Christchurch.

Was ist Ihre Botschaft an die jungen Erwachsenen?
Wir müssen den Antisemitismus und die Islamfeindlichkeit bekämpfen, und wir müssen Fremdenfeindlichkeit und blinden Hass bekämpfen. Wenn man Antisemitismus bekämpfen will, muss man die jüdische Gemeinschaft verlassen und an Orte gehen, an denen es tatsächlich Antisemitismus gibt und an denen man mit Menschen ins Gespräch kommen kann.

Machen Sie sich als Fotograf auch Gedanken um die Folgen von Künstlicher Intelligenz, gerade, wenn es um die Schoa geht?
Wenn wir über den Holocaust sprechen, müssen die Geschichten so erzählt werden, wie sie sind. In 20 Jahren werden die Schoa-Überlebenden nicht mehr bei uns sein. Und schon heute sagen manche Leute, dass der Holocaust eine große Lüge sei. Deshalb darf es keinerlei Manipulation geben. Aus diesem Grund habe ich das Foto von Mihail eben richtig arrangiert und nicht künstlich bearbeitet. Es hat übrigens sechs Monate gedauert, bis ich für dieses Foto alles zusammen hatte.

Wie würde eigentlich Ihr Selfie aussehen?
So ganz genau weiß ich das nicht, aber für mich ist es ein gutes Bild, wenn man nicht alles auf den ersten Blick erkennen kann, wenn es einen Moment braucht. Ich möchte eigentlich noch etwas erzählen, was mir wichtig ist.

Was denn?
Ich habe Mitte der 90er-Jahre an einem Jugendaustausch teilgenommen. Ich ging nach Dortmund. Da ich in Israel aufgewachsen bin, erinnere ich mich, wie die Generation der Schoa-Überlebenden – und auch die Generation danach – gesagt hat, dass sie niemals nach Deutschland reisen würden, dass sie keine deutschen Produkte verwenden würden und so weiter. Und dann habe ich an diesem Austausch teilgenommen, habe Leute in meinem Alter getroffen, mit denselben Interessen. Wir sprechen hier von den 90ern. Wir alle mochten »Zurück in die Zukunft«, die Champions League. Es spielte keine Rolle, ob man Israeli oder Deutscher, Jude oder Christ ist. Und das ist das Tolle am Jugendaustausch: verschiedene Menschen aus verschiedenen Kulturen zu treffen. Man kann Barrieren abbauen, denn wenn man Menschen trifft und ihnen zuhört, wenn sie ihre Geschichten erzählen, dann ist das etwas Gewaltiges.

Mit dem Fotografen sprach Katrin Richter per Zoom. www.humansoftelaviv.co.il

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