Lyrik

Die Poesie des Melancholikers

Überlebte im Keller: Günter Kunert Foto: imago

»1929 geboren in Berlin, Chausseestraße 29, am 6. März«, meldet seine Vita. Günter Kunert spricht von einer »staatlich verpfuschten Kindheit«. Der Vater will sich nicht von seiner jüdischen Frau scheiden lassen. Der Sohn darf keine weiterführende Schule besuchen, wird als »wehrunwürdig« ausgemustert und überlebt das Kriegsende in einem Keller. Den »Grashüpfer«, der Dichter werden will, fördert Johannes R. Becher, der spätere Kulturminister der DDR. Kunert wird mit anderen Talenten zur Schriftstellerschulung geschickt. Heiner Müller ist dabei, auch Horst Bienek und Erich Loest.

195o erscheint sein Erstling Wegschilder und Mauerinschriften. In seinen Erinnerungen Erwachsenenspiele berichtet Kunert, wie er zum Schreiben kam: »Kurze Zeilen setze ich untereinander. Dem optischen Eindruck nach sähe so etwa ein Gedicht aus. Ist das ein Gedicht?« Und weiter: »Schreiben als Droge? Mit nachlassender Wirkung. Die ›Urworte‹ werden bald zu alltäglichen. Und damit hebt das unerfüllbare Verlangen nach dem primären Erleben der Sprache an.«

Misstrauen Schon früh verliert Kunerts Lyrik den »Lehrauftrag«. Bei den Kulturoberen der SED macht sich Misstrauen breit. Man versteht, was Kunert von König Xantos von Tharsos sagt, dem »von Geburt Blinden«, der »als unnötigen Luxus/herzustellen verbot, was die Leute/Lampen nennen«.

Er meinte. Kunert hatte mit aphoristisch zugespitzten Gedichten begonnen. Etwa zur gleichen Zeit wie Erich Fried publizierte er »Warngedichte«. Er warnte vor einer Verdunklung der Vernunft, an die er auch dann noch glaubte, als er zunehmend Schwierigkeiten mit den Genossen bekam. Mal war es ein Gedicht, das auf Kafka anspielt, mal ein Fernsehfilm mit einem Taxifahrer, der die grassierende Unsitte des Denunzierens denunziert: »Melde, Mensch, immer melde. Ein Volk von verhinderten und nicht verhinderten Polizisten, das sind wir und sind wir schon immer gewesen. Heil uns.«

Kunert warnte auch vor der Wiederkehr der Vergangenheit: »Kurz nach Kriegsende war ja jeder Opfer des Faschismus, und bald darauf hieß es, es sei ja alles gar nicht so schlecht bei Hitler gewesen. So wie heute die Haltung zur DDR ist, sei ja auch alles gar nicht so schlecht gewesen.« Aber da ist Kunerts Urteil dann doch vieldeutig: »Es war nicht alles schlecht in der DDR. Aber es konnte einem schon schlecht werden.«

Chronist Anders als Autoren, die nur im genuinen Ton ihres Schreibens auskunftsfähig sind, versteht Kunert sich als Zeitzeuge, als Chronist der laufenden Ereignisse. Nach dem Biermann-Rausschmiss war auch für Kunert in der DDR kein Platz mehr. 1979 verabschiedete er sich sang- und klanglos von diesem Staat und übersiedelte in die Bundesrepublik, nach Kaisborstel in der schleswig-holsteinischen Provinz. Hier fand er die Landschaft, die seiner Vorliebe für Autoren wie Montaigne oder Theodor Lessing entspricht. Auch wenn sie ihm nicht zur Heimat geworden ist. »Da hätte ich mit acht Jahren herkommen müssen. Aber es ist mein Zuhause.«

Als 2004 der Band Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast herauskam, mit Notizen aus drei Jahrzehnten, hielten einige dies für das Hauptwerk Kunerts. In der Tat zeigen diese »Weltbetrachtungen« den Autor als Meister des aphoristischen Schreibens, der sich seiner »Egomanie« als Voraussetzung für Kreativität bewusst ist.

Als das Leben umsonst war, Kunerts vorläufiges lyrisches Vermächtnis, hat jenen selbstironischen Ton, der noch die Klage über die rasante Beschleunigung der Lebenszyklen in die Nachfolgeschaft Heines rückt. Ein reiches Dichterleben mit zahlreichen literarischen Ehrungen, weit über 100 Essay-, Reise- und Gedichtbänden – Kunert als Zeitdiagnostiker und antiutopischer Kulturkritiker, der sich gegen den Raubbau an der Natur wendet und die Selbstauslieferung an eine fessellose Technikwelt verurteilt.

Moralist
Heute gilt Kunert, der sich mit seiner leisen, zerbrechlichen Stimme immer wieder auch zum aktuellen Tagesgeschehen zu Wort meldet, als einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Sprache, als Aufklärer und Moralist. Den Weggefährten von einst, die im Stalinismus verharrten, widmete er in seinem Gedichtband Nachtvorstellung ein sprödes »Nach-Wort«: »Erstickt, Genosse, ist DEINE Stimme/an einer längst verrotteten Sprache./Gedenke Majakowskis/ in der Gummizelle der Utopie./Das gekränkte Ich rebelliert/gegen seine Niederlage/als Sieger der Geschichte.«

»Ich bin«, sagte Kunert einmal, »ein Melancholiker. Melancholiker sind zugleich auch wahnsinnig heitere Menschen. Das ist so. Trauerklöße sind auch heiter, lustig und clownesk, das gehört zusammen. Das ist die Dialektik dieser Menschen, das sind die zwei Seiten dieser einen Münze. Der Durchschnittsmensch ist weder melancholisch noch heiter, er ist gar nichts.«

Kunerts Gedichte sind »Bestandsaufnahmen« vom »Unterwegssein«. Sie sind dabei erstaunlich aktuell und präsent. Das moderne Subjekt am Abgrund seiner Selbstauflösung, dargestellt in einer vielfach als »Sklavensprache« verstandenen Vieldeutigkeit, die das wahre Leben im Angesicht drohender Katastrophen intoniert. Aber, so Kunerts Credo, »solange man schreibt, ist der Untergang gebannt«.

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