Berettyóújfalu, Ostungarn, Februar 1945. Von den knapp 1000 Juden der Stadt haben 150 überlebt, von den 300 jüdischen Kindern sechs. Nur eine jüdische Familie des Ortes hat wieder zusammengefunden. Die Eltern waren verhaftet worden, und der elfjährige Sohn hatte um den Preis eines Hauses für sich, seine ältere Schwester und zwei Cousins eine Fahrerlaubnis nach Budapest organisiert, wo er mit knapper Not überlebte. Nun, nach seiner Rückkehr, wird er auf offener Straße von einem älteren Juden angesprochen: »Du lebst statt der anderen.«
»Die Massenausrottung der Juden im Zweiten Weltkrieg, die ich nur zufällig überlebt habe, macht mich zum Juden. Ich verweigere mich nicht der Solida rität und der Gemeinschaft mit denen, mit denen zusammen ich in einem Ofen hätte verbrannt werden sollen.« Das schreibt György Konrád in seiner Essaysammlung Über Juden, erschienen im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp. Es sind längere und kürzere Texte, zwischen 1986 und 2010 verfasst, in denen der Schriftsteller das eigene Judentum gleichsam einkreist, es von verschiedenen Seiten angeht – analytisch, biografisch, politisch.
Individualismus Konrád, fünffacher Familienvater, Sozialarbeiter, Psychologe, Soziologe, Dissident und später repräsentativer Funktionsträger (er war Präsident des Internationalen PEN-Clubs und der Berliner Akademie der Künste) bezeichnet sich als »jüdisch gottgläubigen Heiden« und sieht für das Judentum »drei markante Bezugspunkte: die Religionsgemeinschaft, Israel und den weltlichen Individualismus. Scheinbar schließen diese Bezugspunkte einander aus, in Wirklichkeit sind sie interdependent und verstärken sich wechselseitig«.
Auch als nichtreligiöser Schriftsteller besteht Konrád auf seinem Recht, sich in die jüdische Tradition einzuordnen: »Die Werke der weltlichen Juden sind, abgesehen davon, dass sie natürliche Bestandteile der sie umgebenden nationalen und urbanen Kultur geworden sind, zugleich auch Bestandteil der jüdischen Kultur, von welcher der religiöse Judaismus lediglich ein Segment ist.«
selbstbewusst Aus Konráds Sicht hat die Staatsgläubigkeit der ungarischen Juden mit zur jüdischen Katastrophe beigetragen: »Jenes alte Spiel, uns nach und nach aus dem Leben verdrängen zu lassen, stets mit dem Verständnis für diejenigen, die uns daraus verdrängen, werden wir nicht wieder mitspielen.« Seine Schlussfolgerung: »Die Erfahrung lehrt, dass eine selbstbewusste jüdische Haltung richtiger ist als ein vorsichtiger Rückzug in den Hintergrund.«
Konrád besteht darauf, sich als Jude von Nichtjuden unterscheiden zu dürfen – was nach seinem Dafürhalten das Zusammenleben eher erleichtert als erschwert: »Denn wenn wir uns von vornherein als Gleiche deklarieren, wird unaufhörlich das Unterschiedliche an die Oberfläche drängen. Setzen wir uns jedoch von vornherein als verschieden, dann wird sich fortwährend das Gemeinsame zeigen.«
Konrád, der seinem Aufsatz zu Israel den Titel Die Pflicht, weiterzuleben gegeben hat, bekennt sich ausdrücklich zum wehrhaften jüdischen Staat: »Einen anderen zuverlässigen Schutz als die militärisch garantierte Souveränität gibt es nicht. Der Zweite Weltkrieg hat Zeugnis davon abgelegt, dass auch Fügsamkeit keine Schonung verspricht.« Zugleich ist er selbst aber in der ungarischen Diaspora geblieben: »Zwölf Jahre alt war ich, als ich den Nationalsozialismus überlebt hatte.
15 im Jahr der kraftstrotzenden Einführung des Kommunismus, 56, als das Regime seinen Atem aushauchte. (...) Ich weiß nicht, woher dieser Starrsinn kommt, dass ich auf Dauer nicht weit weg von jenem Hauseingang wohnen möchte, vor dem ich fast erschossen worden wäre.«
Zumal der Autor, nach der Wende zunächst mit hohen ungarischen Staatspreisen geehrt, inzwischen wieder mit den Gespenstern seiner Kindheit konfrontiert ist: »Heute ist es schon ziemlich üblich, dass nazistisch Uniformierte die gegen sie antretenden Polizisten als dreckige Juden beschimpfen, während ihre ins Europaparlament gewählten Abgeordneten Ungarn, das ihrer Meinung nach von Juden, die ein Prozent der Bevölkerung ausmachen, besetzt worden sei, mit Palästina vergleichen. Das Gewesene kommt wieder hervor«
liberal Dass die gegenwärtige nationalkonservative Regierung ihn – und viele andere jüdische Intellektuelle – erneut in die Rolle des Volks- und Staatsfeindes drängt, ergibt sich für György Konrád fast zwangsläufig aus seiner, von ihm als für einen Juden existentiell beschriebenen, politischen Haltung: »Identisch mit sich selbst sind die Juden einzig dann, wenn sie sich an die Prinzipien der liberalen Demokratie halten, denn nach unseren bisherigen Erfahrungen haben allein die liberalen öffentlichen Zustände unsere Lebenssicherheit, unsere angstfreie und erfolgreiche Existenz garantiert.« Das gilt nicht nur in Ungarn.
So genau und differenziert Konrád in diesen Essays die verschiedenen Facetten jüdischer Existenz beobachtet und analysiert – eine endgültige Auslegung des Judentums versagt er sich: »Dieses Volk mag es nicht, bestimmt zu werden, entzieht sich jedweder Bestimmung, empfindet entsprechende Definitionen vielleicht als Gefängnis. Und daran ändert sich auch nichts, sollten sich jüdische Autoren darin versuchen.«
György Konrád: »Über Juden«. Übersetzt von Hans-Henning Paetzke. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2012, 246 S., 21,95 €