Seldwyla ist so ein Ort. Ebenso Marcel Prousts Balbec. Oder Vladimir Vertlibs Gigricht. Alle drei sind fiktive Orte der Literatur, in denen, mal mehr, mal weniger verfremdet, Realien hindurchschimmern und deutlich werden. Deutlicher, als es der Fall wäre, hieße Gottfried Kellers Seldwyla profan Luzern oder Bern, tauchte Cabourg, die Stadt in der Normandie, unter dem echten Namen auf.
In Gigricht, einer erfundenen Stadt irgendwo in Süddeutschland, siedelte der 1966 geborene, in Salzburg und Wien lebende Vertlib drei Bücher an, und zwar Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur (2001), Letzter Wunsch von 2003 sowie Am Morgen des zwölften Tages, ein Roman, der 2009 erschien.
SYMBOL Ein Zebra ist auch so ein Tier. Allerdings ein in der zoologischen Farbenlehre außergewöhnliches, da schwarz und weiß gestreift. In Vertlibs neuem, seinem achten Roman Zebra im Krieg taucht ein solcher Unpaarhufer auf, nicht als Protagonist, sondern als sorgsam über einige Seiten huschendes Symbol inmitten eines schrecklichen Krieges, der eine Stadt verwüstet. Hätte sich der 1966 in Leningrad geborene, in mehreren Ländern aufgewachsene Erzähler träumen lassen, wie aktuell sein Buch bei Erscheinen sein würde?
Eine Stadt an der östlichen Peripherie Europas. Eine Stadt am Meer, die bessere Zeiten erlebt hat. Einst war sie kosmopolitisch. Dort lebt Paul Sarianidis mit seiner Frau, einer Ärztin, der zwölfjährigen Tochter und seiner nicht auf den Mund gefallenen Mutter. Es herrscht Bürgerkrieg. Die Stadt wird bombardiert, Granaten fallen, die Menschen hungern, sie sitzen in Bunkern, sie stehen um Brot an, wilde Hunde streunen bösartig durch die Straßen.
Hätte sich der 1966 in Leningrad geborene Erzähler träumen lassen, wie aktuell sein Buch bei Erscheinen sein würde?
Paul wird zum grotesken Opfer. Weil er sich, von Haus aus Flugzeugingenieur und derzeit arbeitslos, in sozialen Medien zu rabiaten Verbalangriffen auf einen Kommandeur der Aufständischen hat hinreißen lassen, wird er, nachdem diese obsiegen, vor einer Kamera gedemütigt, vor Angst nässt er sich ein. Die Filmaufnahme wird im Netz ein Hit. Er, der Naive, emotional Schwache, wird zum gebrochenen Spitzbuben. Die digitale Welt lacht über ihn, verhöhnt ihn. Und was digital ist, wird im Handumdrehen real – er ist gebrandmarkt als lebender Witz.
REGIME Paul dient sich dann dem neuen Regime an, weil er seine betagten Nachbarn, ein russisch-jüdisches Paar, retten will, aus einem humanistischen Impuls heraus. Einmal, nur einmal will er das Richtige tun. Nun agiert er, nein, er handelt eben nicht. Er wird benutzt als bedingungsloser Anhänger und Sprachrohr der neuen Junta.
Als sich das Blatt ganz am Romanende politisch erneut abrupt wendet, die Machtelite der einen Seite eingesperrt wird und die Befehlshaber des alten Regimes obsiegen, steht es noch schlechter um Paul. Die Odyssee von Hohn und physischer Bedrohung scheint kein Ende zu nehmen, ja zum Mahlstrom zu werden.
Das ist stellenweise recht hart. Aber auch überaus lustig. Vertlib gelingen hochkomische Familiendialoge. Die Komik hat aber große Tiefe. Basso continuo und seit Anbeginn an, seit einem Vierteljahrhundert also, das erzählerische Werk Vertlibs durchziehend, ist immer schon die auseinanderstrebende Erinnerung und deren vielgestaltige Auswirkung auf die Gegenwart gewesen.
»Denn«, so schrieb Marcel Proust einmal, »das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt – so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war –, bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der sich das Leben realisiert.«
Es ging Vertlib um Transformation sowie Transformationsresistenz von Fremden in der Fremde, Religion, Toleranz und Fanatismus. Nun, in Zebra im Krieg, erweitert um grundlegende Fragen nach Moral und dem Fundament der Moral, die von nationalistischem Totalitarismus durchlöchert wird, nach Masse und Macht und Miniatur-Ich. Vor grau-gräulichem Hintergrund.
Denn striktes Schwarz und Weiß gibt es nur im Fell eines Zebras. Alles andere: ein Graubereich. Die grausam Leben zerreibende Zeit – ein Mühlrad der Grausamkeit.
Vladimir Vertlib: »Zebra im Krieg«. Residenz, Salzburg 2022. 288 S., 24 €