Nach mehr als vier Jahren fand sie nun wieder statt, die Heidelberger Hochschulrede in der Aula der Alten Universität Heidelberg. Ins Leben gerufen 2005 von Salomon Korn, seinerzeit Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorsitzender des Kuratoriums der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, brachte die Vorlesungsreihe schon viele namhafte Rednerinnen und Redner nach Heidelberg.
Angefangen mit dem Literaturkritiker und Autor Marcel Reich-Ranicki über Angela Merkel und die Schauspielerin Iris Berben bis hin zu Schauspieler und Moderator Harald Schmidt sowie Sozialwissenschaftlerin und Autorin Necla Kelek.
Mit ihrer Präsentation zum Thema »Zeugenschaft und Krieg – Über die Ethik des Erzählens« gelang es Carolin Emcke in der diesjährigen Hochschulrede, die Suche nach der Wahrheit, das Ringen um eine wahrhafte Beschreibung von Kriegsschauplätzen, versehrten Menschen und zerstörten Städten, zugleich als innere Reise zu schildern. Mittels Fotos begleitete das Publikum Emcke in die Krisengebiete, die die Autorin und Publizistin als Auslandsredakteurin besuchte, um zwischen 1998 und 2006 für den »Spiegel« zu berichten.
dringlichkeit »Bei keiner einzigen Begegnung, wirklich nie, wurde ich um Geld gefragt oder um praktische Hilfe gebeten. Stattdessen lautete die Frage immer: Schreibst du das auf?« Diese Dringlichkeit war während des gesamten Vortrags spürbar. So sah sich Emcke auch nie als distanzierte Beobachterin, sondern immer als »Zeugin«, stets die eigene Subjektivität und Befangenheit reflektierend.
Um einen wahrhaften Bericht schreiben zu können, seien viele Hindernisse zu überwinden. »Budget, Grenzen, Mauern, Milizionäre, Zufälle«, so lautete entsprechend lapidar die erste Folie von Emckes Präsentation. Sie berichtete von einer Begebenheit im Irak. Für eine Recherche über die Polizei wurde sie wider Erwarten mit einem hochbewaffneten Konvoi abgeholt und nach Kirkuk begleitet. »Das war zwar sicher, aber trotzdem heikel. Von außen betrachtet, war ich nicht mehr neutral.«
Hinzu kämen psychologische Hindernisse: ein Nicht-Verstehen-Können, eine kognitive Überforderung. Das Trümmerfeld in Port-au-Prince (Haiti) nach dem Erdbeben 2010 kommentierte sie mit den Worten: »Zuerst lässt sich dieser Anblick nicht verstehen, dieses Ausmaß. Das Bewusstsein hinkt der Erfahrung hinterher.« Zum Nicht-Verstehen-Können käme oft ein Nicht-Verstehen-Wollen: »Das Leid, das Unrecht, die Ungerechtigkeit – alles wehrt sich in einem zu akzeptieren, dass das wahr sein soll.«
symbol Bei einer Trauerfeier für drei am Ende des Kosovo-Krieges erschossene Männer wollte eine der trauernden Frauen ihr eine Kerze geben. Emcke wusste nicht, wer die Toten waren oder warum sie hatten sterben müssen. Was hätten die Zuhörenden getan? Gibt die Zeugin ihre Rolle als Außenstehende auf, indem sie ein Symbol der Trauer, die brennende Kerze, annimmt und sich somit solidarisch zeigt? Oder ist in diesem Moment, unabhängig von der Identität der vor ihr liegenden toten Menschen, die Empathie für die Hinterbliebenen die ausschlaggebende menschliche Regung? Die Rednerin überlässt es dem Publikum, für sich selbst zu entscheiden.
Unsere ideologischen und kulturellen Sichtblenden sind ein Hindernis, kognitiv und moralisch.
Ein weiteres Hindernis seien unsere ideologischen und kulturellen Sichtblenden, sowohl kognitiv als auch moralisch. Begleitet von einem Foto, auf dem ein Junge mit Turban, dunkler Jeans und Armeejacke zu sehen ist, der nähend auf dem Boden eines kahlen Raumes sitzt, erläuterte Emcke, dass dieser junge Pakistaner von Soldaten der afghanischen Nord-Allianz verschleppt wurde und deren Uniformen nähte.
Jahre später habe sie von den sexuellen Misshandlungen, jahrelanger Versklavung und weiteren Verbrechen an jungen Männern wie ihm gelesen. »Ich war erschrocken, weil ich wusste, wäre das ein junges Mädchen gewesen, hätte ich sofort an mögliche Vergehen dieser Männer an ihr gedacht. Da dort aber ein Junge saß, bin ich überhaupt nicht auf das Ausmaß des Leids gekommen, das dieser Junge durchmachen musste.«
misshandlungen Nachdem das Publikum Carolin Emcke während dieser ersten Schritte vor dem eigentlichen Text begleitet hatte, kam diese nun auf die Auswahl des gesammelten Materials, auf die »Schwellen des Zeigbaren« zu sprechen. »Für mich ist wichtig, dass wir Gewalterfahrungen und Erfahrungen von Repression bereits niedrigschwellig zeigen. Dass nur noch die ausgeprägtesten und schlimmsten Misshandlungen von Menschen bebildert und beschrieben werden, bereitet mir große Sorge.«
Diese Form von Immunisierung zeigte sich auch im Heidelberger Publikum selbst: Niemand schaute weg. Obgleich die Autorin vor jedem drastischeren Foto rechtzeitig warnte, um die Augen schließen zu können, nahm niemand dieses Angebot in Anspruch. Alles schon einmal da gewesen, schlimmer geht immer.
Und genau davor warnte Carolin Emcke, auch bezogen auf unsere eigene heutige Gesellschaft: Durch das stete Überbieten bereits gezeigter und beschriebener Grausamkeiten und Verbrechen erblindeten wir für weniger drastisches Unrecht, sodass bei »antidemokratischen, autoritären, neo-völkischen, revisionistischen, antisemitischen Bewegungen, Parteien und Figuren« lediglich noch die gröbsten Vorfälle für Entsetzen sorgten.
»Ich möchte mit meinem Schreiben dafür sorgen, dass wir Unrecht bereits auf einer niedrigen Schwelle wahrnehmen«, so Emcke. Zur Verdeutlichung zeigte sie ein Foto von abgeschnittenen Krawatten. Privathäuser seien von Soldatinnen und Soldaten besetzt worden, die beim Abzug noch die Schlipse der Bewohner zerschnitten hätten. Kein Vergleich zu den vorigen gruseligen Fotos, stattdessen ein leises Grauen ob des Übergriffs in die Privatsphäre. Und zugleich auch ein Bild als Mahnung an den eigenen Schreibstandard, das lange Zeit an Emckes Wohnzimmerwand hing.
normalität Bei all dieser Zerstörung, menschlich und materiell, zum Ende hin ganz unerwartete Fotos: die Blaskapelle, die nach dem Erdbeben durch Port-au-Prince marschiert, die junge Palästinenserin auf dem Jahrmarkt in Gaza und der Iraker, der sofort, nachdem Geflüchtete ein Stadion verlassen haben, Spielfeldlinien markiert, um ein Fußballspiel zu ermöglichen – Fotos, die inmitten von Verzweiflung und Repression etwas Sanftes zeigen und einen Atemzug Normalität zulassen. Bilder, die jedoch umso mehr erklärende Worte der Zeugin benötigen, um das Rätsel der Heiterkeit inmitten des Grauens nicht ungelöst zu lassen.
»Traue ich mir zu, die Komplexität der Situation und der Menschen darin zu erfassen? Schaffe ich es, das ambivalente Ganze zu beschreiben?«
Die »Möglichkeitsräume des Humanen zu zeigen«, empfindet Emcke als größte Aufgabe. Die Menschen zu beschreiben, die nicht nur deformiert, missachtet, misshandelt und Opfer sind, sondern vor Krieg und Zerstörung andere waren und danach wieder andere sein möchten.