Tomer Dotan-Dreyfus

Die Möglichkeit des Bösen

Mit »Birobidschan« wählt der Autor einen ungewöhnlichen Schauplatz für seinen Debüt-Roman

von Ralf Balke  30.10.2023 14:50 Uhr

Mit »Birobidschan« wählt der Autor einen ungewöhnlichen Schauplatz für seinen Debüt-Roman

von Ralf Balke  30.10.2023 14:50 Uhr

Fast schon idyllisch ist es in Birobidschan. Es gibt eine Scholem-Alejchem-Allee, eine Tageszeitung mit dem schönen Namen »Schtern«, und alle Menschen sprechen Jiddisch. Denn das ist die offizielle Zweitsprache neben dem Russischen. Wohl genau deshalb wählte Tomer Dotan-Dreyfus diese Region am äußersten östlichen Ende des russischen Riesenreichs zum Schauplatz seines ersten Romans, der es sogar auf die Longlist der nominierten Titel für den Deutschen Buchpreis 2023 schaffte.

Irgendwann hatte der 1987 in Haifa geborene Israeli, der seit rund zehn Jahren in Berlin lebt und als Lyriker sowie Übersetzer arbeitet, die Muttersprache seiner Großeltern für sich entdeckt und wollte der fast schon untergegangenen Lingua franca der aschkenasischen Diaspora so zu neuer Anerkennung und Aufmerksamkeit verhelfen.

Erzähltechnik der abrupten Zeitsprünge

Bemerkenswerterweise schrieb er aber das Buch auf Deutsch. Im Mittelpunkt von Birobidschan stehen gleich mehrere Familiengeschichten. Dabei wird immer wieder auf die Erzähltechnik der abrupten Zeitsprünge zurückgegriffen. Episode reiht sich so an Episode, was dem Ganzen den Charakter einer Collage verleiht.

Sukzessiv werden die einzelnen Protagonisten vorgestellt. Da wären die beiden Kindheitsfreunde Rachel und Alex, die mittlerweile ein Paar geworden sind, der ehemalige Waise Dmitri, der stotternde Polizist Solomon sowie ein ganzer Kosmos an Figuren, die in der Vergangenheit in Birobidschan gestrandet sind oder dort aufwuchsen und nie viel anderes außer dieser abgeschiedenen Region gesehen hatten.

Doch eines Tages tauchen zwei Fremde auf, angeblich auf der Suche nach gefährlichen Kragenbären, die aus China über den Fluss Amur herübergekommen wären. Und damit bringen sie ebenso Unruhe in den Ort wie ein stummes Mädchen. Zudem gibt es einen ersten Toten. »Der Mord an Boris veränderte die Zeit in Birobidschan, wie die Atombombe von Hiroshima die der ganzen Welt verändert hatte.«

Spätestens jetzt merkt man, dass Lyriker besser keine Romane schreiben sollten. Denn sprachlich ist das alles eine Nummer zu dick aufgetragen. Viel zu offensichtlich möchte Dotan-Dreyfus an die Traditionen des magischen Realismus anknüpfen, also den Erzählstil eines Leo Perutz oder Gabriel García Márquez.

Doch Formulierungen wie »Erinnerungen sind getarnte Träume«, die »inneren Sonnenuntergänge« oder »eine rothaarige Figur stand im Nachthemd mit nackten Armen und Beinen, ihre Haare wie Lava, verschüttet auf ihren Schultern« machen ihn angesichts eines solchen Sprachkitschs eher zur neuen Hedwig Courths-Mahler – aber letztendlich geht es ja auch in Birobidschan am Ende nur um die Sehnsucht nach einer heilen, in diesem Fall jiddischen Welt.

Historischer Kontext

Ebenso problematisch ist es, Birobidschan völlig losgelöst aus dem historischen Kontext als Folie für eine Romanhandlung zu benutzen. Dotan-Dreyfus blendet einfach alles aus, was zur Entstehung und Genese der Jüdischen Autonomen Oblast gehört, beispielsweise Moskaus Nationalitätenpolitik und die Tatsache, dass das ambitionierte Projekt, eine eigene sowjetjiddische Kultur zu etablieren, bereits der antisemitischen Kosmopolitenverfolgung Stalins zum Opfer fiel.

Das ist nicht nur fahrlässig, Birobidschan wird so auch – entgegen der eigentlichen Intention des Autors – zu einem völlig beliebigen Ort ohne Geschichte und damit austauschbar. Und eine fiktive Gesellschaft, in der Jiddisch die offizielle Sprache ist, hatte übrigens schon jemand anderes zum Romanstoff erkoren, und zwar Michael Chabon in Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Aber jenes Buch zu lesen, macht wenigstens Spaß.

Tomer Dotan-Dreyfus: »Birobidschan«. Roman. Voland & Quist, Berlin 2023, 324 S., 24 €

Los Angeles

Adrien Brody: Kim Kardashian jagte mein Internet in die Luft

Adrien Brody kann für seine Rolle in »Der Brutalist« auf einen zweiten Oscar hoffen. Große Aufmerksamkeit bekam er zuletzt auch wegen eines Projekts, in dem er gar nicht mitspielt

 04.02.2025

Kulturkolumne

Die Willkür von Symbolen

Gedanken zu Swastika, Hakenkreuz und roten Dreiecken in Fernost

von Laura Cazés  04.02.2025

Kassel

Documenta-Gesellschaft veröffentlicht Verhaltenskodex

Die Weltkunstschau trete »jeder Form von Antisemitismus, Rassismus und jedweder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« aktiv entgegen, heißt es darin

 03.02.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von wegen Laufmaschen: Geschichten aus Strumpfhausen

von Nicole Dreyfus  03.02.2025

Eurovision

Der traurigste Tanz der Welt

Yuval Raphael überlebte den Nova-Rave am 7. Oktober. Nun vertritt sie Israel beim Song Contest

von Sabine Brandes  02.02.2025

Aufgegabelt

Jerusalemer Bagel

Rezepte und Leckeres

 02.02.2025

TV-Tipp

Paul Newman im großen Arte-Themenabend

Spielerdrama »Die Farbe des Geldes« und Doku über den US-Filmstar

 01.02.2025

Kultur

Uraufführung des Oratoriums »Annes Passion«

Über die Darstellung von Anne Frank in veschiedenen Kunstformen streiten Historiker und Autoren seit mindestens 70 Jahren. Das Oratorium von Evgeni Orkin entfacht die Kontroverse neu

von Valentin Schmid  31.01.2025

Nachruf

Grande Dame des Pop: Marianne Faithfull ist tot

In den »Swinging Sixties« war sie Mick Jaggers schöne Freundin - eine Zuschreibung, mit der sie später oft haderte. Nach Schlagzeilen und Drogensucht gelang ihr die künstlerische Wiederauferstehung

von Werner Herpell  31.01.2025