Das Jerusalem-Syndrom wird nach Ansicht des israelischen Psychiaters Gregory Katz immer seltener. »Der Großteil der Patienten, die mit religiösen Wahnvorstellungen in die psychiatrische Klinik kommen, leiden bereits vor ihrer Ankunft in der Heiligen Stadt an psychischen Störungen«, sagt der am Kfar Shaul Medical Center in Jerusalem tätige Mediziner. Das »reine« Jerusalem-Syndrom ist nur dann gegeben, wenn eine zuvor psychologisch unauffällige Person bei ihrem Aufenthalt in Jerusalem in religiöse Ekstase gerät, Visionen erlebt und sich für eine biblische Gestalt hält, etwa für Jesus. Nach wenigen Tagen der Behandlung mit Beruhigungsmitteln und Gesprächstherapie verhalten sich die Betroffenen in der Regel wieder normal.
Religiosität »Patienten mit Jerusalem-Syndrom haben wir meist nur einmal pro Jahr«, sagt Katz, der die Notfallstation an der Klinik Kfar Shaul leitet. »Vor der Jahrtausendwende waren es noch zwei bis drei Patienten jährlich.« Als Grund für den Rückgang vermutet der Psychiater die abnehmende Religiosität der Touristen. »Um am reinen, also dem ad hoc auftretenden Jerusalem-Syndrom zu erkranken, müssen sehr spezielle Faktoren zusammenkommen«, erklärt Katz. Zum einen seien die betroffenen Personen in allen Fällen extrem religiös – 98 Prozent seien christlichen Glaubens. Außerdem stammten Patienten mit Jerusalem-Syndrom in der Regel aus abgelegenen, ländlichen Gegenden und seien vor ihrer Reise nach Jerusalem oft noch nie verreist, sagt der Spezialist. Bedingungen, die in der heutigen, globalisierten und zunehmend säkularen westlichen Welt immer seltener werden.
Auch die Wahrnehmung des Phänomens in der Öffentlichkeit habe sich verändert, so Katz. Früher seien religiöse Erlebnisse von der Gesellschaft als normal toleriert worden. »Heute sind wir so rational, dass wir Menschen mit religiösen Visionen als krank betrachten.« epd