Sie war eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen in Frankreich – bis die aus Russland eingewanderte Jüdin 1940 Publikationsverbot erhielt, 1942 deportiert und am 19. August desselben Jahres in Auschwitz ermordet wurde. Der größte Teil der jetzt erstmals ins Deutsche übersetzten Erzählungen ist während dieser Zeit der Bedrohung durch die deutschen Besatzer entstanden. Einige wenige sind – unter Pseudonym – sogar noch veröffentlicht worden.
In den elf Erzählungen gelingt es Irène Némirovsky, ihre Protagonisten mit wenigen Sätzen unverwechselbar zu charakterisieren, die Handlung überraschend zu wenden und mit charmantem Ernst das Leben auf die Probe der Erträglichkeit zu stellen.
Die Geschichte »Der Freund und die Frau« etwa führt die beiden einzigen Überlebenden eines Flugzeugabsturzes in Sibirien zusammen. Kurz bevor der eine Mann seinen Verletzungen erliegt, beschwört er den anderen, seine Frau und baldige Witwe in Paris zu besuchen.
Deportation Nach einiger Zeit löst der Überlebende sein Versprechen ein – und findet die Witwe so unerträglich, dass er sich wenig später vor dem Strafrichter verantworten muss. Der Text ist 1942 entstanden, wenige Wochen vor der Deportation der Autorin, die ihr Schicksal zu diesem Zeitpunkt schon ahnte. Ihr Mann Michel, ein in Kiew geborener jüdischer Bankier, konnte sie nicht retten und wurde kurz nach ihr in Auschwitz ermordet. Das ist der Kontext, den der Leser der zarten, zurückhaltenden Übersetzung von Susanne Röckel stets mitliest.
»Echo« heißt eine andere, 1934 zuerst in einer Zeitschrift veröffentliche Erzählung, in der ein von seiner Mutter erniedrigter Mann die Leiden aus seiner Kindheit an seinen Sohn »weitergibt«. Die ganze Brutalität, zu der ein Angehöriger der französischen Bourgeoisie fähig war, beschreibt Némirovsky so minimalistisch gekonnt, wie es ein ganzer Roman nicht besser hätte ausdrücken können.
Erinnerung Die titelgebende »Pariser Symphonie« dagegen erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die einen zum Kriegsdienst gegen die Hitlerarmee eingezogenen Mann heiratet – plötzlich, vielleicht übereilt, jedenfalls nicht »in Weiß«. Ihre Mutter erinnert sich an ihre eigene erste Ehe, die vor Verdun ihr Ende durch den Tod ihres jungen Gatten fand. Die Autorin muss nicht aussprechen, wie absurd sie die Wiederholung des mörderischen Krieges nach einem knappen Vierteljahrhundert findet.
Im Jahr 1941 entstand »Die Diebin«, eine bestürzende Geschichte, wie Sandra Kegel in ihrem einfühlsamen Nachwort schreibt. Ein von seiner Großmutter adoptiertes Mädchen wird des Diebstahls einer großen Geldsumme beschuldigt. Ihre Mutter hatte Jahre zuvor auf demselben Gut als Magd gearbeitet und wurde wegen des Diebstahls einer wertvollen Brosche des Hofes verwiesen. Mit ihr hatte der früh gestorbene Sohn der Gutsherrin das später von ihr adoptierte Mädchen außerehelich gezeugt.
Die eigentlich strenge Herrin des Gutes hatte das Mädchen dennoch stets verwöhnt, bis das Kind sich zu dem Diebstahl an dem Geld bekennt und ihr Motiv offenbart: Ihre Mutter sei als Diebin vom Hof gejagt worden, weswegen sie stets unter der üblen Nachrede zu leiden hatte.
Jetzt sollte die Herrin eine Diebin in der eigenen Familie haben und der gleichen Schande ausgesetzt sein. Der Ausgang der Geschichte ist völlig überraschend – und reiht sie in die Reihe der großen Erzählungen der Weltliteratur ein. Überhaupt atmen alle in dem Band veröffentlichten Erzählungen den Geist einer tiefen Menschlichkeit und zeitlosen Eleganz. Große Literatur in kleinem Format.
Irène Némirovsky: »Pariser Symphonie«. Manesse, Zürich 2016, 240 S., 24,95 €