Es war vor 30 Jahren – wie die Zeit vergeht – 1981, genau gesagt. Ich hatte mich für eine langsame Anreise entschieden, mit dem Zug von Paris nach Brindisi, ein Halt in Rom, dann mit dem Schiff nach Patras, mit einem anderen nach Rhodos, eine Woche Zypern und eines Morgens schließlich die Ankunft in Haifa. Bangte mir vor dem Ziel? Ich reiste gern – tue es noch immer–, doch jedesmal, wenn es ins Ausland ging, fragte mein Vater, warum ich nicht nach Israel führe. Auch dort gebe es historische Stätten und schöne Landschaften, ganz abgesehen von dem, was die Israelis, von Feinden umgeben, der Wüste abgerungen hätten und so weiter.
Ich muss sagen, dass ich im Geiste eine Teilung vorgenommen hatte: Mitteleuropa und Jiddisch auf der Seite meiner Mutter, Israel und Hebräisch auf der Seite meines Vaters. Dabei stammten beide Seiten meiner Familie aus Polen und sogar aus derselben Stadt, dabei sprach mein Vater Jiddisch und meine Mutter sprach es seit dem Krieg und der Besetzung Frankreichs nicht mehr. Aber mein Vater hätte gern in Israel gelebt und konnte es nicht, denn seine Familie war nach Frankreich emigriert, und er hatte nicht die Kraft oder den Mut, sie zu verlassen. Ich hatte mich stets auf die Seite meiner Mutter gestellt und sah um so weniger Gründe, nach Israel zu reisen, als mich mein Vater dazu überreden wollte.
fremde So war ich schon 27, als ich eines Sommertages mit meinem damaligen Freund in Haifa aus dem Hafengebäude trat – er hatte die Reise vorgeschlagen, und ich konnte sie nur machen, weil der Anstoß nicht von mir kam. Ich sehe uns noch die Straße überqueren, sehe die vielen Menschen, den Verkehrspolizisten – und mir ging der Satz durch den Kopf: Hier sind sogar die Polizisten Juden. Es war in der Tat sonderbar, plötzlich einer so wesentlichen Eigenschaft verlustig zu gehen, der Zugehörigkeit zu einer Minderheit. Dort war ich wie alle anderen, natürlich war ich Französin, doch das war nur eine andere Nationalität. Jedenfalls glaubte ich das.
Der Aufenthalt dauerte drei Wochen und folgte einem banalen und touristischen Plan: Haifa, wo damals eine aus Wien gebürtige Tante meines Vaters lebte, dann das Tote Meer und Masada, Jerusalem, Eilat, Safed, Nazareth, Aschkelon, alles irgendwie durcheinander. Es war der letzte Sommer vor der Rückgabe des Sinai an Ägypten, und viele Israelis verbrachten dort die Ferien, um die Gelegenheit noch zu nutzen. Man sprach von nichts anderem, und trotz der Blauhelmsoldaten an der libanesischen Grenze glaubte man an den Frieden. Das war vor Sabra und Schatila, vor Oslo, Intifada, palästinensischer Selbstverwaltung und dem Bau der Mauer – in vorgeschichtlicher Zeit. Die Menschen meines Alters und die noch Jüngeren blickten gebannt auf Amerika und seinen Lebensstil; ich verstand mich besser mit der älteren Generation, die weniger materialistisch als vielmehr von ihren Idealen enttäuscht war.
Natürlich ist das Licht über Safed weich, als läge, unsichtbar aber prägend, ein Fluidum von Wissen und Bildung über der Stadt. Natürlich ist Jerusalems rosa Kalkstein schön – und all die verschiedenen Sprachen im Westteil der Stadt zu hören immer wieder überraschend. Und Beer Scheeba, die Universitätsstadt mitten in der Wüste, die mich faszinierte, die ich gern besucht hätte – ich betrachtete die Straßenschilder, als könnten sie mir etwas darüber verraten, wie sie aussah.
Doch woran ich mich besonders erinnere, sind die vielen Möbelgeschäfte, die auf eine Obsession mit dem Sesshaftwerden hinzuweisen schienen; der wütende Blick eines orthodoxen Juden, der im Bus saß und den ich in einer engen Kurve versehentlich gestreift hatte; die Gespräche mit Leuten, die fragten, warum ich denn gekommen sei: Man sollte entweder zu Hause bleiben oder gleich dort leben und nicht bloß als Tourist vorbeischauen. Und das vertraute Gefühl der Fremdheit, das mir beim Verlassen des Hafens für einige Sekunden abhanden gekommen war, kehrte wieder.
isolation Ich beherrschte das griechische Alphabet und das kyrillische, doch hebräische Schriftzeichen konnte ich mir nicht merken. Ich schaute, redete – in anderen Sprachen – und lauschte im Grunde immer mit dem gleichen Gedanken, nämlich dass ich dort nichts zu suchen und nichts zu finden, dass ich nichts gemeinsam hätte mit den Leuten dort. Durch die verlassenen Straßen der Außenbezirke Tel Avivs wandernd, wo Werkstätten und Garagen, Elektrogeschäfte und Klempnereien aufeinanderfolgten, suchte ich wohl unbewusst nach Polen; ich hatte mich auf die Suche nach den Wurzeln gemacht, ohne das Risiko, sie zu finden; auf die Suche nach der Antwort auf eine falsch gestellte Frage.
Einmal aber hatte ich das Gefühl, ganz nah dran zu sein, in Eilat, dem reizlosen Badeort, wo die zeitweilig verlegte Grenze zu Ägypten sich bald wieder schließen würde. Am Abend funkelten in der Ferne am Golf die Lichter einer Stadt, Akaba. Eine verbotene Stadt, denn zu jener Zeit gab es keinerlei diplomatische Beziehung zwischen Israel und Jordanien, und die Allenby-Brücke war der einzige, halbamtliche Übergang.
Es gab die Lichter, man sah sie die Umrisse eines anderen Lebens zeichnen, und es gab in Blickweite die Stadt, die sich anbot, nah und doch unerreichbar. Wie der Frieden. Wie alles, wonach man sich sehnt. Ja, ich mochte diese zwischen Meer und Wüste gelegene, von Grenzen umgebene Stadt, die jeden Abend gezwungen war, auf etwas Verbotenes zu starren. Tagsüber konnte man die Strände, die Korallen und die Sonne genießen und so tun, als vergäße man es, aber das Wesentliche kehrte abends wieder, dieses grausame, ausweglose Sichgegenüberliegen.
Seelenlage Ich weiß, dass heute alles anders ist, dass die Sperrgebiete verlegt wurden. Ich war nicht mehr in Israel seit 30 Jahren. Ich werde nicht noch einmal den Fehler machen, als Touristin dorthin zu fahren, ich brauche dafür einen Grund – aber welchen? Die Lichter der verbotenen Stadt, die mich die Wunde ahnen ließen, ich bin sicher, sie funkeln noch irgendwo in der Seele dieses Landes.
Übersetzung: Gernot Krämer