Roman

Die Last der Verantwortung

Foto: Getty Images/iStockphoto

»Ein Kind ist ein Strudel von Ängsten», schreibt Elena Ferrante schon ziemlich am Anfang dieses ebenso bedrückenden wie beeindruckenden Romans. Nach der Lektüre von Frau im Dunkeln muss man ihr wohl zustimmen. Wer selbst gerade schwanger ist oder sich mit dem Gedanken trägt, Nachkommen in die Welt zu setzen, sollte tunlichst die Finger von diesem Buch lassen. Sonst könnte er sich das mit den Kindern vielleicht noch einmal anders überlegen.

Die Protagonistin Leda ist 47 Jahre alt und fühlt sich, als ihre beiden Töchter nach Toronto zum Vater ziehen, zum ersten Mal seit 25 Jahren frei. Manchmal glaubt sie fast, sie hätte sie jetzt erst zur Welt gebracht. Jünger kommt sie sich vor. Selbst der Kollege an der Uni, mit dem sie hin und wieder ins Bett geht, stellt fest, dass sie gelassener ist.

entschluss Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, fasst Leda den Entschluss, den Sommer an der ionischen Küste zu verbringen, und mietet sich eine winzige Wohnung. Zum ersten Mal seit Jahren auf sich selbst zurückgeworfen, muss sie erkennen, dass sie zwar alles über ihre Töchter, aber nichts über sich selbst weiß.

Wer vorhat, Kinder in die Welt zu setzen, könnte sich das nach diesem Buch noch mal überlegen.

Tag für Tag verbringt sie am Strand und beobachtet dort eine neapolitanische Großfamilie. Der Akzent, den der Wind herüberweht, erinnert sie an ihre eigene Kindheit. An die Mutter, die sie nach dem Baden mit dem Handtuch so energisch trockenrubbelte, dass sie sich heute nicht mehr so ganz sicher ist, ob nur die Sorge vor einer drohenden Erkältung sie damals trieb, oder nicht vielmehr eine lang gehegte Wut auf ihre Kinder.

Mehr als einmal drohte die Mutter den Töchtern, zu gehen, wenn sie nicht brav seien. «Eines Morgens wacht ihr auf, und dann bin ich nicht mehr da», tönt es Leda heute noch in den Ohren. «Und jeden Morgen wachte ich auf und zitterte vor Angst. In Worten verließ sie uns immerzu, in Wirklichkeit blieb sie.»

MUTTERSEIN Vor allem eine junge Frau namens Nina bindet am Strand Ledas Aufmerksamkeit. Schön ist sie. Aber erst das Muttersein macht diese Nina zu etwas Besonderem. Am Anfang bewundert Leda, wie liebevoll die Frau mit ihrer Tochter Elena umgeht. Sie sieht das beständige Flehen in den Augen des Kindes, der Mutter nahe zu sein.

Mit der Zeit aber bekommt die Idylle Sprünge. Ist es wirklich die Liebe zu ihrer Tochter, die sie treibt? Oder geht sie nur so in ihrer Mutterrolle auf, um von den Menschen am Strand Bewunderung zu bekommen? Immer mehr Vorbehalte hegt Leda gegen diese Nina. Ja, mit der Zeit fängt sie sogar an, sie zu hassen.

Als die kleine Elena ihre Puppe am Strand verliert und Leda sie findet, gibt sie sie nicht zurück, sondern versteckt sie in ihrem Apartment. Ein dämonisches Spiel nimmt seinen Lauf, das am Ende böse ausgehen wird.

ERINNERUNGEN Absolut authentisch, wie das nur jemand kann, der weiß, was es heißt, Mutter zu sein, schildert Elena Ferrante, wie sich Leda in der Frau am Strand spiegelt. Immer mehr Erinnerungen steigen in ihr auf. Wie sie einst wegen der beiden Töchter ihre Arbeit an der Uni aufgeben musste, während ihr Mann Karriere machte. Wie sie zu ersticken drohte, weil sie ihre Kinder aus Angst keine einzige Minute aus den Augen lassen konnte.

Und wie sie später glaubte, «die erdrückende Last der Verantwortung und das enge Band, das einen erwürgt», einfach abstreifen zu können, und ihren Mann und die Töchter verließ. Weil sie sie zu sehr liebte. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Trieb sie doch derselbe Egoismus, der sie einst zur Flucht veranlasste, Jahre später zu ihren Kindern zurück. «Sich loszulösen, sich leicht zu fühlen, ist kein Gut, es ist grausam gegen sich selbst und die anderen.»

Wer jemals daran gezweifelt haben mag, dass sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante eine Frau verbirgt, wird durch diesen Roman eines Besseren belehrt.

Wer jemals daran gezweifelt haben mag, dass sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante eine Frau verbirgt, wird durch diesen Roman eines Besseren belehrt. So überzeugend kann sich kein Mann in eine weibliche Perspektive hineindenken. Das ist ganz große Literatur. Als der im italienischen Original (La figlia oscura) 2006 erschienene Roman 2007 von Anja Nattefort übersetzt erstmals auf Deutsch erschien, interessierte sich keiner dafür.

Das wird sich bei der jetzt erschienenen Neuausgabe ändern, nach dem Riesenerfolg von Meine geniale Freundin und der Neapolitanischen Saga. Und das ist gut so! Wäre es doch zu schade gewesen, wenn dieses hervorragende Buch übersehen worden wäre. Alles, was Elena Ferrantes Bestseller ausmacht, findet sich auch schon in ihrem dritten Roman: der gekonnte Spannungsaufbau, der den Leser von Beginn an in seinen Bann zieht. Die zauberhafte Sprache, die Bilder aus einer Kindheit im Neapel der 50er-Jahre heraufbeschwört. Nicht zu vergessen: der einfühlsame weibliche Blick.

PSEUDONYM Noch immer ist nicht geklärt, ob sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante wirklich die in Rom lebende jüdische Übersetzerin Anita Raja verbirgt, wie der italienische Journalist Claudio Gatti herausgefunden haben will. Raja ist die Tochter einer Schoa-Überlebenden namens Golda Petzenberg, deren Eltern einst aus Polen nach Deutschland einwanderten.

In Worms geboren, musste Golda mit ihrer Familie 1937 vor den Nationalsozialisten nach Italien fliehen, wo sie den Angestellten Renato Raja heiratete und 1953 Tochter Anita zur Welt brachte. Als Übersetzerin von Christa Wolf oder Christoph Hein für den kleinen Verlag e/o machte Anita Raja sich einen Namen. Verheiratet ist sie mit dem Schriftsteller Domenico Starnone, der auch eine Zeitlang als Urheber der Bücher galt, nachdem ein Team von Physikern und Mathematikern der Universität La Sapienza in Rom eine Software entwickelt hatte, die durch Stil­analysen den Autor hinter dem Pseudonym ermitteln wollte.

In einem schriftlich geführten Interview erklärte die geheimnisumwobene Schriftstellerin, sie werde im Falle einer Enttarnung «einfach aufhören» zu schreiben.

Ob vielleicht auch beide gemeinsam die Romane geschrieben haben? Wie dem auch sei. In einem schriftlich mit dem «Spiegel» geführten Interview erklärte die geheimnisumwobene Schriftstellerin, sie werde im Falle einer Enttarnung «einfach aufhören» zu schreiben. Seit Claudio Gattis investigativen Recherchen sind keine neuen Bücher von Elena Ferrante erschienen oder auch nur angekündigt. In Deutschland können sich die Leser immerhin erst einmal mit der Neuausgabe ihrer feinsinnigen Frau im Dunkeln trösten.

Elena Ferrante: «Frau im Dunkeln». Aus dem Italienischen von Anja Nattefort. Suhrkamp, Berlin 2019, 188 S., 22 €

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