Ein Film über jüdisches Leben in Berlin ohne die aktuelle Antisemitismusdiskussion? Ohne melancholische Klarinettenklänge? Ohne Hummus im Restaurant, ohne den Kantor in der Synagoge oder die Gleise des Bahnsteigs 17 im Grunewald, von dem aus die Züge in den Tod fuhren? Darf es solch einen Film geben über den ganz normalen Alltag jüdischer Menschen in der deutschen Hauptstadt, der dennoch ein besonderer ist? Alexa Karolinski beweist mit ihrem neuen Dokumentarfilm Lebenszeichen – Jüdischsein in Berlin, dass es diese Geschichten nicht nur geben darf, sondern geben muss.
Die in Berlin geborene und seit 2014 in Los Angeles lebende Filmemacherin hat 2012 mit ihrem Doppelporträt Oma und Bella ihrer Großmutter Regina und deren bester Freundin Bella ein hinreißend heiteres, tiefsinniges und anrührendes filmisches Denkmal gesetzt. An Lebenszeichen hat sie die vergangenen vier Jahre gearbeitet, als Autorin, Regisseurin, Cutterin und oft als Kamerafrau. So ist ein Film von erstaunlicher Intimität und in einem kontemplativen Rhythmus entstanden, der die Zuschauer assoziativ durch verschiedene Biografien führt, die Karolinski aber nur in Ansätzen erzählen lässt.
Sie selbst verzichtet auf jeden Kommentar, sogar auf die Namen und Berufsbezeichnungen. Wer ist Professor, wer Gärtnerin? Es ist egal, Hierarchien hätten den Fluss des Films nur gestört. Wer ist jüdisch, wer nicht? Namen hätten es vielleicht verraten, Karolinski aber stören Schubladen, Zuschreibungen, sie werden der Vielfalt der Biografien nicht gerecht. Und letztlich hätte sie ewig weiterdrehen und auch Geschichten austauschen können. Sie ist die Mindmap ihrer Protagonisten entlang spaziert, für eine kleine Weile, und hat sie wieder verlassen. Allein Augenblicke, aneinandergereiht, entfalten Geschichten um Familien, Verlust und Traditionen.
Weihnachtskerzen Der Film beginnt und endet mit Rosch Haschana. Alexas Mutter Annie deckt eine lange Tafel für die Gäste, rückt die Teller zurecht, ordnet das Besteck, eine Atmosphäre gediegener Bürgerlichkeit entfaltet sich, die Kamera zeigt das Panoramafenster zum Garten des Hauses und eine elegante Gastgeberin, die sich während der Vorbereitungen erinnert. An ihre Kindheit in Kanada, an ihre Eltern, die nie ein deutsches Auto gefahren, nie deutsche Produkte genutzt und Deutschland auch nie besucht hätten.
Ausgerechnet deren Tochter verliebt sich in einen Deutschen und zieht nach Berlin, jene Stadt, in der die Nazis die Schoa geplant hatten. An ihrem ersten Weihnachtsfest, so erinnert sich Annie, hatte sie sich über Tausende Chanukkaleuchter in den Schaufenstern der Geschäfte gefreut. Sie wundert sich, es gibt doch kaum noch Juden in Berlin? Ihr Mann klärt sie auf: Das sind Weihnachtskerzen der Christen, durch Zufall angeordnet wie ein Chanukkaleuchter. Es sind diese kleinen Brüche, die dem Film einen melancholischen Zauber verleihen. Widersprüche, die Alexa Karolinski stehen und wirken lässt.
Nationalhymne Ihr Film fordert keine Wahl zwischen dem »Entweder oder«, sondern feiert das »Sowohl als auch«. Alexas Bruder, er lebt in Berlin, singt die deutsche Nationalhymne so fehlerfrei, wie nur wenige junge Leute es können. Er liebt eben Fußball. Ob er sie auch im Stadion singen würde? Eher nicht, aber er hört »Einigkeit und Recht und Freiheit« im Zusammenhang mit Länderspielen oft. Viele Leute fragen ihn, ob er Migrationshintergrund hat, mit seinen schwarzen Locken und den dunklen Augen. Den hat er sicher, so seine Antwort, aber dass er Jude ist, würde eher irritieren, also erwähnt er seine Religion und Herkunft nur selten.
Alexas Großmutter, bekannt aus dem Film Oma und Bella hat einen kurzen Auftritt, die 95-jährige Dame mit den immer ordentlich frisierten blonden Locken turnt mit ihrem Physiotherapeuten nach teils polnischen, teils deutschen Anweisungen. Sie singt polnisch, sie freut sich, sie müht sich: eine Greisin, die in jungen Jahren als Displaced Person nach Berlin kam. Der normale Alltag einer Seniorin und doch durch Erinnerungen an ihre polnisch-jüdische Jugend ein besonderer.
Zum Kunstwerk wird dieser Dokumentarfilm durch Karolinskis Fähigkeit, Zufälle aufzugreifen und in kleinen Geschichten zu verbinden. Ein Ehepaar läuft häufig am Bronzedenkmal für die jüdischen Kinder an der Friedrichstraße vorbei, die Züge brachten einige der Kinder nach England und viele in den Tod. »Wollen wir?«, fragt die ältere Dame ihren Mann. »Ja, natürlich«, antwortet er – und dann zieht die Frau aus ihrer Handtasche einen Putzlappen und reinigt das Denkmal. Später stellt ein Betrunkener auf dem Kopf einer Skulptur seine Flasche ab, ein Passant greift sie und wirft sie weg.
Licht Das verbindende Element dieser Beobachtungen ist das Licht. Das Licht des frühen Morgens auf den Stolpersteinen; morgens sind die Menschen aus den Betten gerissen und deportiert worden. Das gleißende Sommerlicht im Garten der Liebermann-Villa, in der Freizeitgärtnerinnen die Beete pflegen. Und das schummerige Lampenlicht im Hause einer älteren Dame, die als Kind mehr als sieben Monate in einem dunklen Bunkerversteck überlebt hat. Sie sitzt am Flügel, singt Jiddisch, spielt alte Schlager und erzählt, fast en passant, dass in jedem ihrer Zimmer das Licht über Nacht eingeschaltet bleiben muss. Sie bekommt sonst Angst. Kürzlich hat sie versucht, einige Räume im Dunkeln zu lassen. Es funktionierte nicht, die Panik setzte sofort ein.
Der Film endet an der festlichen Rosch-Haschana-Tafel. Die Gastgeberin entzündet die Kerzen, Wein wird eingeschenkt, die Familie feiert das Neujahrsfest, feiert das Leben und das Jüdischsein als das Selbstverständliche und das Besondere zugleich. Alexa Karolinski ist ein großer Film gelungen – und ein großes Kunstwerk.
»Lebenszeichen – Jüdischsein in Berlin«, ab 23. August im Kino