»Das Prinzip Hoffnung« nannte Ernst Bloch seine Philosophie der konkreten Utopie. Reale Hoffnung in die Philosophie setzt Carlos Fraenkel und schlägt das sokratische Gespräch als konkrete Exitstrategie vor, um aktuelle Krisen zu lösen. In seinem Sachbuch Mit Platon in Palästina legt er dar, wozu die Liebe zur Wahrheit in einer »zerrissenen« Welt nützen könnte.
Fraenkel maßt sich nicht an, in theoretischer Schau vom zum Unwort gewordenen Elfenbeinturm heraus die Welt erklären zu wollen. Er legt weder Systemgebäude vor, noch bewirbt er einen Dreipunkteplan zum Weltfrieden. Der Philosoph berichtet vielmehr von seinen Seminar- und Workshop-Erfahrungen, die er in verschiedenen Regionen gesammelt hat, und zieht daraus einige Schlüsse. Der wichtigste: Man muss ins Gespräch kommen. Und hier kann die Philosophie als Technik des Debattierens eine Basis für die Debattenkultur darstellen. Der viel zitierte philosophische Werkzeugkasten bietet demzufolge Hammer, Zange und Zollstock für die Diskussion.
Workshops In fünf Regionen mit Konflikten oder Spannungen hat der Experte für jüdische und muslimische Philosophie seine Workshops veranstaltet. Er sprach mit Studenten der palästinensischen Universität in Ost-Jerusalem und einer islamischen Hochschule in Indonesien, mit Vertretern der afrobrasilianischen Kultur in Salvador de Bahia und der nordamerikanischen Mohawk sowie mit chassidischen Juden in New York. In seinem Buch gibt er die Grundzüge der Diskussionen ausführlich wieder. Sie drehen sich um das Verhältnis der Religionen zueinander, beinhalten aber auch ethische Probleme sowie die Bruchlinien zwischen Orthodoxie und Moderne.
Diese anschaulich geschilderten Protokolle geben interessante Einblicke in verschiedene Weltbilder und deren Aufeinanderprallen. Der Leser erfährt darüber hinaus etwas über Plato und die aristotelischen Nachwirkungen bei dem muslimischen Philosophen al-Fârâbî sowie das Denken von Maimonides und Spinoza. Die Fragen nach dem guten, wahren und schönen Leben sind in den Gesprächen fast durchweg verbunden mit der Frage nach dem Verhältnis von Gott zu Welt und Wahrheit.
Fraenkel trägt die Philosophie an unerhörte Orte, und das ist schon einmal grundsympathisch. Sein Glaube an die Verständigung der Kulturen und an die Urteilskraft des Individuums, das eben nicht in einem Korsett namens kulturelle Identität gefangen ist, mag auch biografisch motiviert sein. Der Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Studien an der McGill-Universität in Montreal wuchs in Deutschland und Brasilien auf, studierte in Berlin und Jerusalem. Seine Ausführungen lesen sich interessant, die im zweiten Teil des Buches unterbreiteten Verallgemeinerungen scheinen jedoch ein wenig zu optimistisch.
Wahrheit Das mag an der Beschränktheit seiner Beispiele liegen, in denen Religion stets einen großen Raum einnimmt. So richtig es klingt, wenn Fraenkel die Verständigung einfordert und für die Überprüfung unserer eigenen Überzeugungen plädiert, so muss er zwei unbegründete Annahmen unterstellen. Erstens: dass alle Menschen überhaupt an Diskussionen interessiert sind und eine Idee von Wahrheit als Diskussionsgegenstand haben; zweitens: dass man sich verständigen oder gar einigen kann.
Man kann aber niemanden zum Gespräch verdammen und auch nicht zur Einsicht. So zwingend logisch ein Argument auch sein mag, man muss ihm trotzdem nicht folgen. Und wenn jemand partout von seinem Weltbild, seiner Weltanschauung überzeugt ist, wird er schwerlich durch gutes Zureden davon ablassen.
Carlos Fraenkels durch Religionsphilosophie munitionierte Diskursethik zielt zu eindimensional auf die Idee und Kraft des guten Arguments. Das Vertrauen in Vernunft und Verstandeskraft ist zwar löblich, aber zu sehr vom Prinzip Hoffnung bewegt – wie man nicht zuletzt gegenwärtig an den großen Schwierigkeiten sieht, dem Irrationalismus von Pegida, AfD und Co. beizukommen.
Carlos Fraenkel: »Mit Platon in Palästina. Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt«. Übersetzt von Matthias Fienbork. Hanser, München 2016, 240 S., 19,90 €