Herr Kiesel, Filme bewegen. Was möchten Sie mit ihrem Filmseminar »Transit und Trauma, jüdische Erfahrung in der Nachkriegszeit im Film« in Wiesbaden erreichen – und vor allem wen?
Mit Filmen lassen sich jüdische Geschichten, Bilder, Perspektiven und Biografien sehr intensiv erzählen und anschaulich machen. Es ist ein Weg, die Menschen intellektuell und emotional zu erreichen. Wir veranstalten das Seminar bereits seit vielen Jahren in Kooperation mit der Murnau-Stiftung und die Resonanz darauf ist groß. Ansprechen wollen wir möglichst eine große Bandbreite an Interessierten – darunter Studierende der Filmwissenschaften, Filmschaffende oder auch Menschen, die ganz unterschiedliche Zugänge zum Film haben. Uns geht es darum, bestimmte biografische, historische, kulturelle Aspekte aus jüdischer Sicht zu präsentieren.
Inwiefern?
Die Auswahl der Filme reflektiert die unterschiedlichen Aspekte jüdischen Lebens und jüdischer Existenz - von der Schoa über die Nachkriegszeit bis zur jüdischen Gegenwart. Das gilt für das europäische und das amerikanische Judentum gleichermaßen und auch für Filme aus Israel. Wir versuchen, eine große Bandbreite anzubieten und – filmsprachlich – Zugänge zu ermöglichen zu Geschichten, die man vielleicht aus Literatur und Theater kennt, aber nicht immer explizit vor dem Hintergrund jüdischer Biografien. Wir wollen eine Perspektive anbieten, die im Kinogeschehen nicht in dieser Intensität und umfassenden Form angeboten wird.
Frau Wohl von Haselberg, warum sind in diesem Jahr jüdische Erfahrungen in der Nachkriegserfahrungen das Thema?
Das Thema ist geradezu prädestiniert für unser Seminar. Die jüdische Erfahrung mit der Nachkriegszeit ist komplex und widersprüchlich. Sie hat zu tun mit Überleben und Trauma, mit der Befreiung aus den Lagern, der Rückkehr aus dem Osten, dem Leben in Flüchtlingslagern und der Frage, wie geht es weiter, bis hin zur Staatsgründung Israels. In dieser Gemengelage spielt Film eine wichtige Rolle und daran lässt sich zeigen, welche unterschiedlichen Funktionen Film erfüllen kann. In dieser Zeit sind Spielfilme entstanden, um erste Reflexionen über die Schoa zu liefern und die Möglichkeiten filmischer Erinnerung auszuloten. Es sind aber auch Filme gedreht worden, ganz klar in dem Wissen, dass das später historische Dokumente und Quellen sein werden. Oder es handelt sich um Filmmaterial, das vor Gericht in Prozessen gegen Nazitäter verwendet werden sollte. Entstanden sind ebenso Dokumentationen, die für den Zionismus werben und von der Staatsgründung Israels überzeugen sollten. Wir haben also ganz unterschiedliche Filme, in ganz unterschiedlichen Kontexten.
Kiesel: Uns geht es dabei immer auch um den anderen Blickwinkel. In früheren Seminaren haben wir uns beispielsweise nicht gescheut, auch Nazifilme zu zeigen und damit auseinanderzusetzen, warum diese Filme so erfolgreich waren und zu verstehen, wie die Gesellschaft getickt hat.
Was ist für Sie neu und spannend an den Filmseminaren?
Kiesel: Natürlich kennen wir die Werke, aber es ist immer wieder besonders und interessant, die Filme gemeinsam mit 70 bis 100 Leute zu sehen und zu diskutieren. Die unterschiedliche Wahrnehmung und – entsprechend - die Interpretation und Rezeption des Gesehenen, schafft genau das, was im Rahmen einer gemeinsamen Sichtung so aufregend ist.
Lea Wohl von Haselberg: Die Filme des Programms beziehen sich aufeinander und verändern den Blick, so dass wir den nächsten Film vielleicht schon anders wahrnehmen.
Was erhoffen Sie sich von den Filmtagen?
Kiesel: Wir haben jüdische und nichtjüdische Gäste. Bei den jüdischen Gästen werden wir Erinnerungen, tradierte Erfahrungen oder Erzählungen der Großeltern wachrufen, die sie nun filmisch wiederentdecken können. Ich hoffe auf die Bereitschaft, uns einen Blick auf biografische Hintergründe zu gewähren, die das heutige Leben in Europa, Amerika oder Israel bestimmen. Vieles davon wurde in den Nachkriegsjahren vorstrukturiert. Für die nichtjüdischen Gästen ist das Interessante, Geschichte zu erleben, die sie abstrakt aus der Schule, aus der Literatur oder anderen Filmen kennen. Hier können sie sich ganz konkret mit jüdischen Perspektiven und Erfahrungen auseinandersetzen. Das ist, wenn man in Deutschland lebt, ein wichtiger Beitrag zur politischen und ästhetischen Bildung.
Mit Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrates der Juden in Deutschland, und Lea Wohl von Haselberg von der Filmuniversität Babelsberg sprach Astrid Ludwig.
Lesen Sie mehr zum Thema in der am 1. Dezember erscheinenden Printausgabe.