Mascha Kalékos letzte Lektüre soll David Bronsens Biografie über Joseph Roth gewesen sein. Der österreichische Schriftsteller, der wie Kaléko in Galizien geboren wurde, verschwieg ebenfalls seine ostjüdische Herkunft. So schreibt es Jutta Rosenkranz in ihrer 2007 erschienenen Biografie zur Dichterin, deren Stimme kurz vor ihrem Tod »erschütternd winzig« gewesen sein muss. Wer diese Stimme von alten Tonaufnahmen her kennt – es existieren einige, in denen Kaléko ihre Gedichte selbst rezitiert –, erschrickt ob dieser Beschreibung.
Denn ihre Stimme war schon immer zart, vor allem aber sehr jugendlich. Sie erlosch vor 50 Jahren. Mascha Kalékos Lebensreise endete am 21. Januar 1975 in Zürich. Dort ist sie auf dem Israelitischen Friedhof Friesenberg begraben.
Geboren wurde sie als Golda Malka Aufen
Geboren wurde sie in einer anderen Welt: als Golda Malka Aufen, älteste Tochter eines russischen Vaters und einer österreichischen Mutter in Galizien am 7. Juni 1907 im heutigen Chrzanów in Südpolen. Rozalia Chaja Reisel Aufen und Fischel Engel waren damals nur jüdisch verheiratet, weshalb die Tochter als unehelich galt. Erst als sie 15 Jahre alt war, ließen die Eltern ihr Verhältnis legitimieren, worauf aus Mascha Aufen Mascha Engel wurde. Da wohnte die Familie bereits in Berlin und hatte das karge Land ihrer westgalizischen Heimat und ein Leben zurückgelassen, an das sich die Tochter nicht mehr gern erinnern wollte, so die Biografin Rosenkranz.
Das Thema Heimat sollte die Lyrikerin, die als begabte Schülerin bereits mit neun Jahren erste Gedichte schrieb, zeitlebens beschäftigen. Verlassenheit und Vaterlosigkeit – der Vater wurde noch 1914 aufgrund seiner russischen Staatsangehörigkeit inhaftiert – und der häufige Ortswechsel prägten die junge Mascha. So schrieb sie später: »Ein Fremdling bin ich damals schon gewesen. / Ein Vaterkind, der Ferne zugetan …«
Viele ostjüdische Familien hatten Angst vor Pogromen und flohen nach Prag, Wien oder Berlin – wie 1914 auch die Familie Aufen-Engel. Sie zog zuerst nach Frankfurt am Main, weiter nach Marburg und übersiedelte schließlich nach Berlin, wo es dem Vater offenbar gelang, die Familie mit verschiedenen Tätigkeiten über Wasser zu halten. Die gebürtige Galizierin sollte sich dort bald zu Hause fühlen. Mit anderen Großstädten tat sie sich ungleich schwerer.
Später verschlug es sie nach New York, dann nach Jerusalem
Später verschlug es sie nach New York, dann nach Jerusalem. Der Zweite Weltkrieg, das Exil und das eigene Schicksal ließen sie nicht »sozusagen grundlos vergnügt« zurück, wie sie später eines ihrer Gedichte nannte. Trotzdem leuchtet ihr Werk inmitten der Dichtung der Vorkriegszeit im Gegensatz zur Tristesse der Nachkriegszeit. Wie kaum eine andere Lyrikerin ihrer Zeit skizzierte sie messerscharf den Großstadtmenschen – und war vielleicht vor allem dann »grundlos vergnügt«, wenn sie ihren Beobachtungen Raum in der Sprache schenken konnte.
Aber einfach so fand auch Kaléko nicht zu lyrischen Worten. In einem Radiointerview antwortete sie 1971 auf die Frage, ob sie denn leicht dichten würde: »Manchmal ganz leicht. Manchmal gar nicht. Korrigieren tuʼ ich natürlich auch. Es kann auch sein, dass ein Gedicht jahrelang liegen bleibt. Oder die mittlere Strophe kommt einfach nicht. Oder man läuft jahrelang mit zwei Zeilen herum.« Aber die meisten Strophen würden fast fertig kommen, sagte sie fast schon schalkhaft.
Die ersten Zeilen entstanden in einem Berlin, das sich längst zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum entwickelt hatte. Mascha Engel, laut ihrer Biografin sehr daran interessiert, später zu studieren – doch der Vater war der Meinung, dass ein Studium für ein Mädchen nicht notwendig sei –, arbeitete nach der Mittleren Reife im »Fürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands«. In ihrem Prosatext »Mädchen an der Schreibmaschine« (1934 publiziert im Kleinen Lesebuch für Große. Gereimtes und Ungereimtes) reproduzierte sie diesen Büroalltag literarisch und damit auch eine geschlechts- und generationentypische Erfahrung der Weimarer Republik.
Die von Entfremdung und Monotonie bestimmte Arbeit weiblicher Angestellter wird durch die Sekretärin dargestellt, die über ihre demotivierenden Arbeitsbedingungen klagt: »Die Maschine heißt Continental, römisch zwei. Das Mädchen: Fräulein Siebert, zumindest zwischen neun und fünf. Nach Feierabend gibt es auch einen Vornamen.« Auch für Mascha Kaléko ist die monotone Büroarbeit nur eine Möglichkeit zum Geldverdienen – und wird es ein Leben lang bleiben.
Doch Mascha Engel ist noch jung, trifft sich nach Feierabend »mit den jungen Herren« gegenüber der Gedächtniskirche im Romanischen Café, damals ein Treffpunkt der Berliner Künstlerszene, und beobachtet das Großstadtleben. In ihrer Freizeit liest sie viel, verfasst Gedichte und besucht als Hörerin Kurse in Philosophie und Psychologie an der Universität.
Vermutlich lernte sie auch dort den zehn Jahre älteren Philologen und Sprachlehrer Saul Kaléko kennen. Am 31. Juli 1928 heiraten die beiden, von nun an heißt sie Mascha Kaléko. So steht es in der Heiratsurkunde, die heute im Literaturarchiv Marbach liegt, wo der gesamte Nachlass der Lyrikerin aufbewahrt wird. Nach der Hochzeit wohnt das Paar in Berlin-Neu-Tempelhof, dann im Stadtteil Wilmersdorf und schließlich in Charlottenburg.
Kaléko traf mit ihrer Lyrik den Ton der Zeit. Die Zeitungen rissen sich um ihre Texte.
Kaléko war 22 Jahre alt, als sie ihre ersten Gedichte veröffentlichte. Sie erschienen im Heft Nummer neun der Zeitschrift »Der Querschnitt«. Es sind die Gedichte »Spießers Frühlingserwachen« (später sollte es »Piefkes Frühlingserwachen« heißen) und »Zwischen zwei Fenstern«, die sie im Berliner Dialekt verfasst hatte. Viele Jahre später erzählte Kaléko anlässlich eines Vortrags in Kassel, wie sie sich jung und ahnungslos in den Strudel des Berliner literarischen Lebens hineinziehen ließ.
Immer wieder verwischte sie Spuren ihrer Biografie
Immer wieder verwischte sie Spuren ihrer Biografie und ihres literarischen Schaffens. So verlegte sie ihr Geburtsdatum auf ein paar Jahre später und überging auch ihre ersten beiden Publikationen im »Querschnitt«. Kaléko markierte die erste Veröffentlichung in der »Berliner Tageszeitung« als Beginn ihrer Karriere. Es folgten weitere Publikationen in der »Vossischen Zeitung«, dem »Berliner Tageblatt« und in der »Welt am Montag«.
1933 erschien im Rowohlt Verlag Kalékos erstes Buch Das lyrische Stenogrammheft: das Werk einer selbstbewussten jungen Frau, die dem Typus der Neuen Frau entsprach, allerdings nie explizit zu politischen Ereignissen der Zeit Stellung nahm. Frauen waren selbstsicherer und unabhängiger geworden. Sie trugen Bubikopf und Hosen, rauchten und verdienten ihr eigenes Geld. Kaléko traf mit ihrer Lyrik den Ton der Zeit. Souverän beherrschte sie das Genre, ergänzte die in der deutschen Dichtung beliebte vierteilige Volksliedstrophe mit ungewöhnlichen Reimen und modernem Vokabular und setzte Ironie ein, wo es Sentimentalität und Rührung zu brechen galt.
Die Zeitungen rissen sich um ihre Texte, ein Jahr nach dem Lyrischen Stenogrammheft folgte die Buchpublikation Kleines Lesebuch für Große. Die beiden Bände umfassen zusammen etwas mehr als 100 Gedichte und handeln vom Alltag in der Großstadt, der Suche nach dem Glück, der Liebe, aber auch von der Welt der Angestellten und niederen Beamten, der Verkäuferinnen und Mannequins in Konfektionshäusern. Als einzige bekannte Dichterin der Neuen Sachlichkeit wurde Mascha Kaléko häufig mit ihren männlichen Kollegen verglichen, man nannte sie »weiblicher Ringelnatz« oder »weiblicher Kästner«.
Manchmal kam sie kaum mit dem Schreiben nach: »In jenen Tagen hatte ich kaum Unveröffentlichtes vorzuweisen, was die literarische Produktion betrifft. So lebte ich, wenn man so sagen darf, von der Hand in den Mund. Ich schrieb, und es wurde gedruckt.« Ihre Bücher wurden zu kleinen Bestsellern, scharf beobachtend, geistreich, genauso locker wie wehmütig. Kaléko wollte sich nirgends zuordnen lassen. Im Gedicht »Kein Neutöner« schreibt sie: »Ich singe, wie der Vogel singt.«
Schon zu Lebzeiten wurde der Verdacht gehegt, ihre Lyrik sei einfach und trivial
Schon zu Lebzeiten – und dies steht im Widerspruch zu ihrem Erfolg – und auch noch lange Zeit nach ihrem Tod wurde der Verdacht gehegt, ihre Lyrik sei einfach und trivial. Mit ihrer Rechtfertigung mag Kaléko ins Schwarze getroffen haben: Manch ein für kunstlos gehaltenes Gedicht dürfte sich bei näherem Hinsehen vielschichtiger erweisen als der Anschein, den es auf den ersten Blick erweckt. Bis die Forschung aber in Bezug auf Kaléko zu dieser Überzeugung kam, dauerte es Jahrzehnte.
»Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, / Doch mit dem Tod der andern muss man leben.«
Dazwischen erlebte die Dichterin dunkle Jahre: Ihr Werk wurde 1937 auf die schwarze Liste gesetzt. Noch vor Kriegsbeginn übersiedelte Kaléko mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker und Komponisten Chemjo Vinaver, der sich auf Synagogalmusik spezialisierte, und ihrem Sohn Steven nach New York. Aus dieser Zeit stammen Prosatexte, worin sie wiederum Facetten der Metropole bildhaft skizziert und kommentiert.
Im Jahr 1958 erschien ein weiterer Gedichtband: Verse für Zeitgenossen, eine Sammlung von Gedichten aus den ersten Exiljahren der Lyrikerin. Darin zeichnet Kaléko Erinnerungen aus Berlin und Bilder aus New York nach und stellt die unterschiedlichen Eindrücke einander gegenüber. Zehn Jahre später publizierte Kaléko Das himmelgraue Poesie-Album, einen weiteren Lyrikband mit teils unveröffentlichten Gedichten aus ihrer Schaffenszeit.
Kaléko blieb bis 1959 in New York. Im selben Jahr lehnte sie den Fontane-Preis der Akademie der Künste Berlin ab, weil Hans Egon Holthusen, Direktor der Sektion für Dichtung und Jury-Mitglied, der SS angehört hatte. Danach übersiedelte das Paar Vinaver-Kaléko nach Jerusalem, wo es – zwischen ausgedehnten Europareisen – blieb. Es war der Tod ihres Sohnes Steven im Jahr 1968, der Mascha Kaléko ruhelos machte. Einige Jahre später verlor sie ihren Mann, dann erkrankte sie an Magenkrebs und erlag auf der Durchreise in Zürich ihrem Leiden.
»Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, / Doch mit dem Tod der andern muss man leben.« Mascha Kaléko textete auch die Zeilen auf ihrem eigenen Grabstein. Darauf steht »Dichterin«. Sie wusste, dass ihr literarisches Werk eines Tages rezipiert werden würde. Ob es nur ironisch gemeint war, dass sie in einem Brief von zukünftigen »MK-Forschern« sprach? Nur ihr lyrisches Ich kann es der Nachwelt verraten.