Herr Keret, Sie haben mit Schriftstellern wie David Grossman, Yishai Sarid und Yehudit Rotem Texte für eine »Haggada der Freiheit« zu Pessach verfasst, die unter anderem von Benny Barbasch herausgegeben wurde. Warum gerade jetzt?
Bei der Geschichte des Auszugs aus Ägypten geht es um eine große Veränderung und eine Revolution, durch die Sklaven zu freien Menschen werden. Das Meer teilt sich – und alles, was wir bisher kannten, wird zu etwas anderem. Bisher kannten wir in Israel eine Situation, die schwierig war, aber konstant. Es gibt immer Konflikte – mit den Palästinensern, mit den Syrern und mit anderen. Doch jetzt, in der aktuellen politischen Situation, haben wir das Gefühl, dass sich die Lage jeden Moment ändern kann.
Was bedeutet Freiheit für Sie?
Für mich als Israeli und Jude bedeutet die Botschaft der Haggada vor allem, dass wir unsere Freiheit nicht als selbstverständlich ansehen dürfen. Das sagt für mich auch der Satz: »Erzähl es deinen Kindern.« Es ist jetzt das erste Mal, dass ich es erlebe, für meine Freiheit zu kämpfen. Werte wie Liberalität, Gleichberechtigung und Antidiskriminierung scheinen mir bedroht.
In der Haggada gibt es Bilder von Demonstrationen in Israel. Sehen Sie sich tatsächlich so, wie die Tradition es fordert, als ob Sie selbst aus Ägypten ausziehen?
Viele Jahre lang erschien mir die Haggada wie eine Geschichte mit verteilten Rollen. Auf einmal finde ich einen viel stärkeren und tieferen Zugang dazu. Die israelische Gesellschaft ist extrem gespalten. Die eher linken, gebildeteren, besserverdienenden Israelis sind gegen eine Revolution im Justizwesen, während der andere Teil der Bevölkerung eher dafür ist. Indem wir Säkulare die Haggada für uns in Anspruch nehmen, zeigen wir, dass wir auch die religiöse Seite in unser Anliegen einbeziehen.
Wie die israelische Fahne?
Ja, die Fahne wurde in den vergangenen Jahren eher von den Rechten gezeigt, etwa beim Flaggenmarsch durch Jerusalem. Jetzt sieht man sie verstärkt bei den Protesten. In diesen Tagen der Polarisierung wollen wir nun auch die Geschichte vom Auszug aus Ägypten aus unserer Perspektive erzählen. Der Text der Haggada darf laut religiösen Vorschriften nicht geändert werden. Doch wir wollen die Verbindung zwischen Judentum und Demokratie, zwischen Religion und Liberalität aufzeigen und deutlich machen: »Die Haggada gehört auch uns!«
Was hat Sie als Kind am meisten beim Pessach-Seder beeindruckt?
Es gibt in der Haggada eine Stelle, wo es heißt, dass die Berge tanzen. Das ist ein fröhliches Lied, aber es beschreibt eine Art Super-Erdbeben. Als Kind fand ich das lustig, aber heute klingt es für mich sehr gefährlich. Es ist besser, wenn es keine Erschütterung gibt, der Rechtsstaat stabil bleibt und das Oberste Gericht fest an seinem Platz steht.
Mit dem israelischen Schriftsteller sprach Ayala Goldmann.