»Warum habe ich noch nie davon gehört?«, fragte sich Judy Batalion, als sie 2007 in der British Library ein kleines blaues Buch mit abgestoßenen Ecken in den Händen hielt: Freuen in di Ghettos – Jiddisch für Frauen im Ghetto. Batalion öffnete das Buch, sie erwartete, wie sie sagt, Trübsal und Trauer. Stattdessen ging es um Gewehre, Granaten und Spionage – sie hatte, wie sie feststellte, einen Thriller aufgespürt.
Das 1946 veröffentlichte Buch beinhaltet eine Sammlung von Erinnerungen junger jüdischer Frauen in Polen, die während des Zweiten Weltkriegs gegen die Nazis gekämpft hatten. Sie haben Pistolen in Brotlaiben versteckt, Flugblätter verteilt, Molotowcocktails geworfen, geschmuggelt oder für die Rote Armee spioniert. Batalion erzählt, wie fasziniert sie war. Sie selbst stammt aus einer in Kanada lebenden Familie von Überlebenden des Holocaust in Polen.
spurensuche Das war für die Autorin der Ausgangspunkt einer fast 14 Jahre dauernden Spurensuche. Als sie damit anfing, begegneten ihr an jeder Ecke unglaubliche Geschichten, in Archiven, Verzeichnissen, in E-Mails von fremden Menschen, die ihr von der Geschichte ihrer Familie erzählten. Jetzt ist ihr Buch unter dem Titel Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns in einer vorzüglichen Übersetzung auf Deutsch erschienen.
In den Jahren, in denen sie an dem Buch gearbeitet habe, habe sie viel über die Breite des jüdischen Widerstands gelernt, sagt Batalion. In ihrem Buch konzentriert sie sich auf das Schicksal der jungen jüdischen Frauen in Polen.
Die Autorin erklärt, die jungen Frauen hätten eine erheblich höhere Chance auf Unauffälligkeit gehabt als Männer. Zum einen waren sie im Gegensatz zu den Männern nicht beschnitten, trugen also keine Markierung ihrer jüdischen Identität am Körper. Zum anderen hatten ihre Eltern sie in Polen auf öffentliche Schulen geschickt, daher sprachen sie neben Jiddisch auch akzentfrei Polnisch im Gegensatz zu ihren Brüdern, die in religiösen Schulen Jiddisch sprachen und Polnisch oft nur mit Akzent. Die jungen Frauen waren also insgesamt mit ihrer nichtjüdischen Umgebung vertrauter als ihre Brüder.
jugendbewegung Fast alle jungen Frauen waren Mitglieder in zionistischen oder politischen Jugendbewegungen, die dann zu Widerstandszellen wurden. Da war Bela Hazan, die eine Stelle als Übersetzerin und Rezeptionistin bei der Gestapo annahm. Sie stahl Dokumente und gab sie jüdischen Fälschern. Gefälschte Ausweispapiere machten oft den Unterschied zwischen Leben und Tod. Vladka Meed hat Dynamit in das Warschauer Ghetto geschmuggelt, später Juden in ihrem Versteck mit Geld und Medizin unterstützt. Oder Hela Schüpper, die sich als wohlhabende Polin verkleidete, damit sie Gewehre und Munition zu den kämpfenden Pionieren in Krakau bringen konnte.
Warum kenne ich als Enkelin von Überlebenden des Holocausts nicht ihre Geschichte, warum sind die Stimmen dieser Frauen ungehört geblieben, fragte sich Batalion.
Im Mittelpunkt steht Renia Kukielka, eine der jüngsten von Batalion als »Ghetto Girls« bezeichneten Widerstandskämpferin. Sie war erst 15 Jahre alt, als die Deutschen Polen überfielen und begannen, die Juden zu vernichten. Sie konnte knapp entkommen und fand eine Stelle als Hausmädchen bei einer katholischen Familie. Später hat sie als Kurier gearbeitet, Granaten, gefälschte Ausweispapiere und Geld transportiert, Juden aus dem Ghetto in Verstecke gebracht, immer mit dem Tod vor Augen.
Kukielka wurde dann von der Gestapo gefangen genommen. Sie konnte aus dem Gefängnis, in dem sie gefoltert wurde, mithilfe anderer weiblicher Kuriere fliehen und schaffte es, Palästina zu erreichen, wo sie ihre Erinnerungen auf Hebräisch 1945 veröffentlichte. Ihr Sohn erzählte Batalion, seine Mutter habe beim Überqueren der Straße nie wieder nach links oder rechts geguckt. Renia Kukielka starb 2014 im 90. Lebensjahr.
holocaust-überlebende Warum kenne ich als Enkelin von Überlebenden des Holocausts nicht ihre Geschichte, warum sind die Stimmen dieser Frauen ungehört geblieben, fragte sich Batalion und suchte nach Gründen. Die Frauen, die überlebt und in Israel ein neues Leben begannen, waren schwer traumatisiert. Sie schwiegen – aber, so Batalion, man wollte sie auch nicht unbedingt hören.
Sie zitiert eingangs Emanuel Ringelblum (1900–1944), der das Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto aufbaute. Er schrieb im Mai 1942 in sein Tagebuch: »Die Geschichte der jüdischen Frau wird ein glorreiches Kapitel in der Chronik des Judentums während des gegenwärtigen Krieges sein. Und die Chajkas und Frumkas werden in dieser Geschichte die Hauptfiguren sein. Denn diese Mädchen sind unermüdlich.« Und jetzt nicht länger vergessen.
Judy Batalion: »Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen«. Übersetzt von Maria Zettner, Piper, München 2021, 624 S., 25 €