Essay

Die gestohlene Zeit

Die Künstlerin Zoya Cherkassky-Nnadi malte das Massaker am Feiertag Simchat Tora. Foto: Zoya Cherkassky / Courtesy of Fort Gansevoort, New York. Collection of the Jewish Museum, New York

Dieses Jahr beginnt das jüdische Fest Simchat Tora – normalerweise eines der freudigsten im Kalender – bei uns in Israel am Abend des 23. Oktober. Wie kann ich das Verstreichen der Zeit begreifen, seit dem Massaker, das Hamas-Terroristen am letzten Simchat Tora verübt haben? An der verblichenen roten Farbe auf den Postern der israelischen Geiseln, die nun schon seit einem Jahr an der Bushaltestelle in der Nähe meines Hauses in Jerusalem kleben.

Im vergangenen Jahr habe ich oft darüber nachgedacht, wie der Krieg – ob man mitten darin steckt oder nur von außen zusieht – die Zeit auf eine Weise verformt, die es unmöglich macht, die Zukunft zu greifen. Man denkt, man lebt in der Gegenwart, doch in Wirklichkeit treibt man in einem ewigen Jetzt und fragt sich, wann oder ob sich die Dinge jemals wieder vorwärtsbewegen werden.

Ein israelischer Dichter, ein Freund von mir, sagte kürzlich – fast beiläufig, als spräche er über das Wetter –, dass dieser Krieg, der »niedrig schwellende, aber höchst angstbesetzte« Konflikt, den Israel gegen die Stellvertreter des Iran führt, uns »der Zukunftsform beraubt« habe. Er sagte es in jenem trockenen Tonfall, wie ihn Menschen aus dieser Region verwenden, wenn sie schon genug erlebt haben, um die Sprache auf das Wesentliche zu reduzieren. Israelis sagen, was sie meinen, und sie meinen, was sie sagen, und niemand spricht über die Zukunft in Israel, ohne eine Spur von Ironie.

In Israel macht niemand mehr Pläne

Ich denke nun ständig an das, was er sagte, als ob die Zeit selbst durch den Konflikt verzerrt wurde. Tage und Monate entfalten sich nicht mehr so, wie sie es früher taten. Niemand denkt mehr an Fünfjahrespläne oder an den Ruhestand. Die Menschen hier machen zwar Pläne, aber alles steht unter einem Vorbehalt – ein ständiger Hinweis darauf, dass nichts garantiert ist. Wir haben gelernt, mit dieser dauerhaften Unsicherheit zu leben.

Wir haben, mit anderen Worten, gelernt, dass die Uhren zwar weiter ticken, aber die Zeit – das gemeinsame, kontinuierliche Erleben von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – aufhört, natürlich zu fließen. Dies betrifft nicht nur die Kämpfer an der Front, sondern auch die Zivilisten, deren Leben, obwohl nicht direkt bedroht, in den psychischen Tribut eines langwierigen Konflikts verstrickt sind.

In Israel bricht heute nicht nur an den Frontlinien die Zeit zusammen. Es geschieht auch an den ruhigen Orten, in den Cafés dieses Landes, in den Wohnzimmern, wo die Menschen sitzen und warten. Einen Moment lang geht man voran, macht Pläne, und im nächsten – Sirenen, die uns vor einem Raketenangriff warnen, und plötzlich friert alles ein. Zivilisten, die in einem Zustand der Schwebe leben, denken nicht an das nächste Jahr. Wir denken an die nächste Luftschutzsirene.

Einst haben die Sex Pistols »no future« proklamiert, und der Slogan wurde von der Punkbewegung als befreiend aufgegriffen. Er eröffnete einen Raum der Kreativität und Alternativen. Die ständige Bedrohung durch Krieg bewirkt das Gegenteil, sie schließt die Zukunft als Raum des Möglichen. Ob es sich um eine umfassende Invasion handelt oder um einen »niedrigschwelligen« Konflikt, wie die andauernden Salven zwischen Israel und Hamas sowie Hisbollah, der Krieg hat uns alle in einen Schwebezustand versetzt, in dem es absurd und unmöglich erscheint, Pläne für die Zukunft zu schmieden. In Israel ist dieses Gefühl der zeitlichen Verschiebung spürbar. Es manifestiert sich in einer sozialen Psyche, die zwischen Momenten des Alltags und dem plötzlichen Eindringen existenzieller Bedrohungen schwankt.

Der Krieg verzerrt die Rhythmen des jüdischen Kalenders

Die jüdische Tradition bietet eine alte, tiefe Auseinandersetzung mit der Natur der Zeit – eine, die erhellen kann, wie das Erleben von Krieg die Zukunftsform beeinflusst. In der rabbinischen Tradition ist die Zeit nicht bloß sequenziell; sie ist zyklisch, geprägt von den Rhythmen des Schabbats und der Feste, von Geburt und Tod, von Exil und Erlösung. Die talmudischen Weisen betrachteten die Zeit oft durch eine doppelte Linse: einerseits als menschliche Erfahrung von Erwartung und Erfüllung; andererseits als göttliche Struktur, in der die Menschen leben und sich bewegen.

Die jüdische Tradition bietet eine Sichtweise auf die Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Art göttlichen Sequenz miteinander verknüpft. Die Geschichten, die wir erzählen – der Exodus, das Exil, die Rückkehr –, sind nicht nur historische Ereignisse, sie sind Teil einer zyklischen Zeit. Wir erinnern uns jedes Jahr an sie, erleben sie wieder, und so fühlt es sich an, als sei die Zukunft irgendwie mit den Rhythmen der Vergangenheit verbunden.

Doch was passiert, wenn der Krieg diese Rhythmen verzerrt, wenn die Zukunft so ungewiss ist, dass sogar die Traditionen, die Rituale ihre Bedeutung verlieren? In diesem Jahr haben wir weiterhin die Feiertage, den Schabbat, die Feste gefeiert, doch etwas fehlt. Etwas wurde aus dem Kalender selbst entrissen.

Es erinnert mich an Zeraim, eines dieser talmudischen Konzepte, das sich mit den Zyklen des Säens und Erntens befasst. Normalerweise geht es um Jahreszeiten – wann man sät, wann man erntet –, doch es findet sich auch eine Metapher darin, darüber, wie die Zeit funktioniert: Phasen der Ruhe, gefolgt von Phasen des Wachstums, des Erblühens. Doch man kann nicht säen, wenn man belagert wird. Man kann nicht ernten, wenn Raketen fallen.

Krieg unterbricht diesen natürlichen Fluss. Krieg stört diese Rhythmen und erzeugt ein Gefühl des Bruchs in der fortlaufenden Erzählung von Überleben und Erlösung. Er stoppt das Voranschreiten der Zeit und lässt die Menschen in einem Zustand der Unsicherheit gefangen zurück, in dem die Samen von morgen unter den Trümmern von heute begraben sind.

Kafka verstand, dass Gewalt und Angst die Zeit verzerren

Wenn du die Zukunft verlierst, verlierst du die Fähigkeit, sie dir vorzustellen. Die Zukunft, in der jüdischen Denkweise, kommt immer auf uns zu. Doch was passiert, wenn die Zukunft aufhört zu kommen? Wenn jeder Moment nur noch ein ängstliches Jetzt ist? Im Krieg verliert man mehr als nur Menschenleben. Die Zukunft, die einst unvermeidlich schien – Frieden, Sicherheit, Fortschritt –, wirkt nun wie eine Illusion. So bleiben wir stecken, leben in einer suspendierten Gegenwart, in der die Zukunft ständig aufgeschoben wird.

Kafka wusste von alledem. Er verstand in seiner seltsam prophetischen Art, dass das Leben unter Druck – dem Druck von Gewalt und Angst – die Macht hat, die Zeit selbst zu verzerren. Liest man seine Novelle »Das Urteil«, spürt man dieses unerbittliche, erdrückende Präsens. Kafka war besessen von Systemen, die Menschen fangen – und ist der Krieg nicht genau das? Ein System, das alles verschlingt, einschließlich der Zeit?

Dieses Gefühl der gestohlenen Zeit ist, denke ich, einer der heimtückischsten Aspekte dieses Krieges. Er zerstört nicht nur Leben; er zerstört die Möglichkeit, nach vorn zu schauen. Die Worte meines Freundes, des Dichters, kommen mir immer wieder in den Sinn: »der Zukunftsform beraubt«. Diese präzise Formulierung fängt die Aufhebung einer bestimmten Grammatik der Zeit ein: die Zeit, die erlaubt, zu träumen, zu erwarten und eine Zukunft zu entwerfen, die sich möglich anfühlt. Der Krieg beraubt uns nicht nur des Friedens; er stiehlt uns den Horizont der Möglichkeiten. Er beraubt nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Gesellschaften der Fähigkeit, sich eine Zukunft vorzustellen.

Benjamin Balint (* 1976) ist ein amerikanisch-israelischer Autor, Übersetzer und lebt in Jerusalem. Sein 2018 erschienenes Buch »Kafkas letzter Prozess« gewann 2020 den Sami-Rohr-Preis für jüdische Literatur. Sein Buch über den polnisch-jüdischen Autor Bruno Schulz (2023) gewann den National Jewish Book Award.





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