»Charkiw soll evakuiert werden« – mit einem Halbsatz beginnt der neue Gedichtband Frieden ohne Krieg von Yevgeniy Breyger. Es geht nicht um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Jedenfalls nicht sofort. Mit »weil die Deutschen kommen« fährt der Dichter in seinem ersten Kapitel fort, das die Familiengeschichte umreißt – angefangen mit der Rettung seiner Urgroßmutter Mina und deren Tochter Schura, die nach dem Sieg der Roten Armee zur Welt kam.
Doch die Dichtung von Yevgeniy Breyger, geboren 1989 in Charkiw, der seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebt (»dank deutschem pass usw. seh ich mich auch/als deutscher autor, ihr könnt draufhauen«), ist keine plakative »Schoa-Lyrik«. Sie ist genau das Gegenteil davon.
MAGBEBURG Breyger, der mit seinen Eltern als jüdischer »Kontingentflüchtling« aus der Ukraine ausreiste und mehrere Jahre in Magdeburg wohnte – heute lebt er in Frankfurt am Main –, hat Minas Geschichte schon einmal erzählt. In seinem zweiten Gedichtband Gestohlene Luft (der Titel ist eine Anleihe bei Ossip Mandelstam) von 2020 heißt es im Kapitel »Königreiche«: »In der Nacht, als das Dorf sich bewaffnet, erfährt sie / ihre Bestimmung, die großen Felsen zu beschießen. / Am Flusslauf warten sie wie Augen. Entschieden, / ruhig kriecht Stein über Stein – Von ihr weg?«
Diesen Gedichten, für die Breyger 2019 mit dem Leonce-und-Lena-Preis in Darmstadt ausgezeichnet wurde, ist das dramatische Thema nicht auf Anhieb zu entnehmen, es verbirgt sich hinter den Metaphern. Im Zentrum steht Flucht: Die schwangere Mina konnte dem Massenmord an ukrainischen Juden in der Schlucht Babyn Jar im Sommer 1941 entkommen.
Minas Tochter Schura hat Breyger schon davon erzählt, als er fünf Jahre alt war. In Frieden ohne Krieg nimmt der Dichter den familiären Faden wieder auf, erzählt aber direkter und unverblümter.
STIL Er halte nicht viel davon, »dass ein Autor oder eine Autorin einen bestimmten Stil vertreten müssen. Sondern die einzelnen Texte müssen so gut wie möglich passen zu dem, was sie beschreiben«, sagt der Lyriker, ein freundlicher und bedachter Mensch, am Telefon. Er schildert in Frieden ohne Krieg auch sarkastisch den Alltag von Zuwanderern, deren Diplome nicht anerkannt werden. Ein altbekanntes Problem: Der Vater des Autors war in der Ukraine Maschinenbauingenieur, die Mutter Programmiererin. »In Magdeburg haben sie in der Gemeinde gearbeitet, mein Vater als Buchbinder in der Bibliothek und Mutter als Köchin.«
Einiges im neuen Buch ist umgangssprachlich gehalten, anderes poetisch, alles mit sehr bewusstem Einsatz von Satz- und Auslassungszeichen. Das Apostroph in G’tt, G’ott oder das ausgeschriebene Wort drücken die große jüdische Ambivalenz des 20. (und nun auch des 21.) Jahrhunderts aus. Breyger formuliert sie im Gespräch in einer Frage: »Wie kann ich glauben im Angesicht der Ereignisse, die ich beschreibe?«
Ursprünglich hatte der Dichter sein Buch im Februar 2022 beim Verlag abgegeben. Zehn Tage später begann der russische Angriff auf die Ukraine. Breyger verwarf das Buch und verfasste es bis Oktober völlig neu.
Er schildert darin auch die Erfahrungen von Minas Enkel, der jetzt nach Deutschland geflohen ist, und verbindet sie mit dem Trauma von damals: »Es ging mir überhaupt nicht darum, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Mir ging es nur darum zu gucken, was löst es aus, wenn dieser Schrecken nicht aufhört.« Oder wie es im Vorspann heißt: »es ist ein krieg in mir, der will mich ziehn / zieht aber andre und ich denk mich nur / denk hin«.
Yevgeniy Breyger: »Frieden ohne Krieg. Gedichte«. kookbooks Verlag für Lyrik, Essayistik und hybrides Erzählen, Berlin 2023, 80 S., 24 €