Angekündigt wird nicht weniger als die Spiegelung der »Sternstunden und Abgründe eines Landes« in der Historie des renommierten Deutschen Theaters Berlin. Dieses ambitionierte Versprechen im Klappentext wird auf 316 Seiten in beeindruckender Weise eingelöst. Autorin Esther Slevogt, Theaterwissenschaftlerin und Chefredakteurin des Rezensionsportals »Nachtkritik«, weiß, wovon sie schreibt in ihrem Buch Auf den Brettern der Welt. Das Deutsche Theater Berlin.
Vor allem entwickelte sie nach einer bienenfleißigen Recherche, wofür allein 61 Seiten (!) Anmerkungen ein Beleg sind, beim Schreiben einen ungeheuren Spaß an Plotkes: flüssig erzählte Theateranekdoten vor dem Hintergrund von Zwängen und Wandlungen in nicht weniger als sechs verschiedenen Staatswesen.
So sollte das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts für jüdische Theaterleute in Preußen in gleich zweierlei Hinsicht vorteilhaft sein. Da waren zunächst die am 1. Januar 1870 im Norddeutschen Bund in Kraft getretenen Verordnungen, die allen, unabhängig von der religiösen Bindung, Gleichberechtigung »in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung« garantierten. Somit konnten auch private Theater gegründet werden, was bis dahin ein Privileg des höfischen Adels gewesen war.
Slevogt betont, dass das, »was man heute den gesellschaftlichen Partizipationsanspruch nennen würde«, hier am ehesten zu verwirklichen war – auf der Bühne wie im Publikum. Und das Buch weist nach, dass speziell am Beispiel des Deutschen Theaters auch die deutsch-jüdische Kulturgeschichte über Jahrzehnte hinweg exemplarisch abgebildet werden kann.
Der Initiator des ersten bürgerlichen Theaters war Siegwart Friedmann
Der Initiator dieses ersten bürgerlichen Theaters war der Schauspieler Siegwart Friedmann, der, 1842 in Budapest geboren, zunächst Samuel Friedmann hieß. Und Lajos Weiss, Sohn des Justiziars der dortigen jüdischen Gemeinde, nannte sich als Schauspieler Ludwig Barney. In Berlin wurden sie Kompagnons und eröffneten in einem Akt der »bürgerlichen Selbstermächtigung«, so Slevogt, am 29. September 1883 das Deutsche Theater mit Schillers Kabale und Liebe. In den folgenden Jahren war der Spielplan über weite Strecken dominiert von Stücken, in denen soziale Konflikte und deren psychologische Untiefen verhandelt wurden.
Jüdische Schauspieler und Regisseure hatten großen Anteil an der Geschichte des Hauses.
Henrik Ibsen fand ebenso den Weg auf die Bühne des Hauses wie Gerhart Hauptmann – eine Spielplangestaltung, die vor allem dem jüdischen Regisseur Otto Bram zu verdanken war. Einst als Theaterkritiker tätig, war er ans Deutsche Theater gekommen und übernahm es im Jahr 1894. In dieser Spielzeit wurde auch ein junger jüdischer Schauspieler namens Max Reinhardt (geboren als Maximilian Goldmann) engagiert. Er wird nach Otto Brams Tod das Deutsche Theater gemeinsam mit Bruder Eduard als kaufmännischem Direktor bis zum Jahr 1932 leiten. Max Reinhardt schuf viel beachtete Inszenierungen mit einer poetischen Bildsprache.
In den zwei Jahrzehnten seiner Theaterleitung wurde er »Zauberer« genannt, und in Slevogts Buch erfahren die Leser, warum. Reinhardt gilt als Schöpfer neuer Bühnenlösungen, wofür die Drehbühne und der Rundhorizont Erfindungen waren, die bis heute zum Einsatz kommen. Auch entwickelte der »Zauberer« das Konzept des Kammerspiels, wobei das Schauspielensemble bei kleinen intimen Stücken dem Publikum sehr nahekommt. Kaum ein Stadttheater der heutigen Zeit, das nicht neben dem Haupthaus auch über eine Kammerspielstätte verfügt.
Der Ära Max Reinhardt folgten Jahrzehnte zweier Diktaturen
Der Ära Reinhardt folgten Jahrzehnte zweier Diktaturen. Esther Slevogt beschreibt diese Zeit anhand sehr persönlicher Schicksale. Bewegend etwa die Geschichte des jüdischen Staatsschauspielers Paul Otto. Der vermeintlich fanatische Nazi wird im November 1943 von einem Kollegen mit »Heil Hitler, Herr Schlesinger!« begrüßt. Die Tarnung war aufgeflogen. Gemeinsam mit seiner Frau beging Otto Suizid, um einer Deportation zuvorzukommen.
Slevogt setzt die an der gesellschaftlichen Realität gespiegelten Geschichten des Deutschen Theaters auch im sowjetischen Sektor von Berlin fort. Es beginnt mit Verdächtigungen der aus der sowjetischen Emigration zurückgekehrten politischen Klasse gegenüber allen und jedem, worunter die ersten Nachkriegs-Intendanten Gustav von Wangenheim und Wolfgang Langhoff zu leiden hatten.
Im Herbst 1989 beschließt das Schauspielensemble des Deutschen Theaters, eine Demonstration anzumelden. Es waren die Schauspielerin Jutta Wachowiak, die den Aufruf der noch nicht legalen Partei Neues Forum in die Ensembleversammlung eingebracht hatte, und der Anwalt Gregor Gysi, der die Rechtslage erläuterte. Slevogt beschreibt die euphorische Atmosphäre sehr plastisch, die am 4. November 1989 zur großen Demonstration und Kundgebung auf dem Alexanderplatz führte. Das Kapitel ist überschrieben mit »Antrag auf eine Demonstration oder: Wie ein Staat verschwindet«.
Die keineswegs widerspruchsfreie Geschichte des Deutschen Theaters der Nachwendezeit findet ihre Würdigung in einem Epilog. Wer Geschichte und Theaterkunst in kausaler Wechselwirkung begreift, wird in diesem unterhaltsam verfassten Buch ein lesenswertes Dokument finden.
Esther Slevogt: »Auf den Brettern der Welt. Das Deutsche Theater Berlin«. Ch. Links, Berlin 2023, 384 S., 25 €