Er ist gebrechlich geworden, seine Antworten sind noch lakonischer als schon vor 20 Jahren. Aber im Kopf ist er so jung und kämpferisch wie eh und je. 83 Jahre alt ist Hans Mommsen jetzt – nicht zum ersten Mal wird das Lebenswerk dieses bedeutenden Historikers bilanziert.
Doch die Würdigung, zu der es jetzt in der Berliner Topographie des Terrors kam, war eine ganz besondere, persönliche, liebenswürdige. Götz Aly, Freund und in vieler Hinsicht Schüler Mommsens, hatte eingeladen, und es kamen derart viele Freunde, Schüler und Interessierte, dass noch der Vorraum, in dem die Veranstaltung auf der Leinwand gezeigt wurde, überfüllt war. 90 Minuten sprach man über Mommsens Lebenswerk und über sein neues Buch Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa.
Die Leistungen Mommsens für die Erforschung der Ursachen der Schoa und des NS-Terrors sind gar nicht genug zu würdigen. Aly gab einen Überblick über den Karriereweg des Historikers, der zunächst nicht in die Fußstapfen seines Vaters und Urgroßvaters treten wollte, als Mittelalterfachmann begonnen hatte, um sich dann doch von den brennenden Fragen der Zeitgeschichte und den offenen Wunden der deutschen Gesellschaft einnehmen zu lassen.
Mitunter wurde der Abend zu einer Betrachtung der Geschichte der Geschichtsschreibung in Deutschland. An den Universitäten der 50er- und frühen 60er-Jahre tummelten sich alte Nazis, Ex-Mitläufer und all jene, die einen »Schlussstrich« ziehen wollten. Die Historie ist zudem im Vergleich zu progressiveren Fächern wie Soziologie, Philosophie und Politik eine besonders konservative Wissenschaft, auch kritische Geister tendieren hier zum Relativieren allzu starker Aussagen.
geschichtslügen So begann Mommsen sein Forscherleben in einem Klima der Verdrängung, der künstlichen Trennung zwischen Deutschen und Nazis, die wie Außerirdische »im deutschen Namen« ihre Verbrechen verübt hatten und 1945 auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Gegen derartige Illusionen und Lügen kämpfte Mommsens Generation.
Heute ist kaum vorstellbar, dass das renommierte Münchner Institut für Zeitgeschichte 1962 die Übersetzung von Raul Hilbergs dreibändigem Standardwerk Die Vernichtung der europäischen Juden mit der Begründung ablehnte, dafür gebe es »keinen Bedarf«. Oder dass im Fischer-Verlag eine zehnbändige Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus konzipiert wurde, in dessen Entwurf die Worte »Jude«, »Gaskammer« und »Verbrechen« nicht vorkamen. Sie wurde allerdings nie realisiert – die Kritik der jüngeren Generation sowie der Eichmann- und die Auschwitz-Prozesse trugen dazu bei, dass die deutsche Gesellschaft sich ihren Verbrechen zu stellen begann. »Mommsen schrieb 1972 im gleichen Verlag das Gegenprogramm zu dem alten Entwurf«, erläuterte Aly. »In diesem Forschungsprogramm sind alle Aufgaben benannt, die bis heute Gültigkeit haben.«
Beteiligung Mommsens Zwillingsbruder Wolfgang J., der 2004 verstarb, konzentrierte sich auf die Geschichte des Kaiserreichs und des deutschen Imperialismus sowie auf Studien zu Max Weber – und bereitete damit den Boden, den sein Bruder dann mit aufsehenerregenden Detailstudien zur NS-Bürokratie ebenso wie mit Gesamtdarstellungen zur Republik von Weimar (1990) und zur NS-Gesellschaft (1991) beackerte.
»Die Beantwortung der Frage, wie das geschehen konnte«, so Mommsen, habe ihn zeitlebens angetrieben. Auch beim 83-Jährigen ist die Fassungslosigkeit über die Terrorherrschaft im eigenen Land noch spürbar. In seinem neuen Buch geht es um den Kern, den Mord am jüdischen Volk und den Plan dazu. Mommsen betont die Beteiligung der ganzen Gesellschaft: Man braucht sehr viele Menschen, um sechs Millionen zu ermorden. Damit relativiert er die Rolle Hitlers – was manche kritisieren.
Zugleich betont Mommsen auch im neuen Buch seine zentrale These der »Kulmination des Verbrechens«. Trotz »utopischer Visionen« Einzelner zur Vernichtung des Weltjudentums habe innerhalb des NS-Regimes kein ursprünglicher Plan zur Ausrottung existiert. Man wollte Deportation, enteignete, entrechtete, drangsalierte und vertrieb. Aber erst im Zuge des Weltkriegs »schaltete das Regime um«, so Mommsen.
kommunikatives handeln Die Historiker Aly und Mommsen sparten in dem Podiumsgespräch auch nicht an Spitzen gegen manche ihrer Kollegen: Weder der Erklärung des NS-Terrors mit der »charismatischen Herrschaft« Hitlers (Hans-Ulrich Wehler), noch der optimistischen Deutung deutscher Geschichte als harmonischer »Weg nach Westen« (Heinrich-August Winkler), in dem der NS-Staat nur eine störende Unterbrechung darstellt, kann Mommsen viel abgewinnen.
»Mommsens Hauptverdienst«, so Aly, »besteht darin, Fragen offenzuhalten und dem Eindruck des sicheren Wissens ein Klima freier Diskussion entgegenzustellen.« Geschichtsschreibung als kommunikatives Handeln – so verstanden, verkörpert Hans Mommsen das Beste der alten Bundesrepublik.
Hans Mommsen: »Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa«. Wallstein, Göttingen 2014, 234 S., 19,90 €