Archäologie

Die erste Hühnersuppe

Archäologen der Uni Haifa fanden bei Ausgrabungen in Marissa Tausende antiker Hühnerknochen. Foto: Flash 90

Heute würde man wohl von einem Food Trend sprechen: Vor gut zwei Jahrtausenden fand Hühnerfleisch aus dem Gebiet des heutigen Israel seinen Weg nach Europa und revolutionierte die dortige Esskultur. Urheber der kulinarischen Innovation waren die Bewohner der antiken Stadt Marissa: Als Erste in der westlichen Hemisphäre begannen sie vor rund 2300 Jahren, Geflügel zu kochen, wie israelische Forscher nun entdeckt haben.

Ein Archäologenteam von der Universität Haifa fand eine ungewöhnlich hohe Konzentration von Hühnerknochen in den Überresten von Marissa, das im heutigen Bet-Guvrin-Marissa-Nationalpark liegt, nahe an der Grenze zum Westjordanland. An den Knochen entdeckten die Forscher Spuren von Messern, was nahelegt, dass die Hühner geschlachtet und nicht etwa zu rituellen Zwecken gehalten wurden.

Archäologie Der Fund ist »ein Beweis für die früheste bekannte wirtschaftliche Nutzung von Hühnern außerhalb ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets«, schreiben die Archäologen Guy Bar-Oz, Adi Erlich, Ayelet Gilboa und Lee Perry-Gal in ihrer Studie, die in der vergangenen Woche im US-Wissenschaftsjournal »Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America« veröffentlicht wurde. »Bisher wurde angenommen, dass die wirtschaftliche Nutzung von Hühnern in Europa begann«, sagt Lee Perry-Gal, eine der Autorinnen, der Jüdischen Allgemeinen. »Doch unsere Funde zeigen, dass sie in unserer Region begann.«

Schmelztiegel Ursprünglich stammen Hühner aus Ostasien, wo sie bereits vom sechsten Jahrtausend v.d.Z. an domestiziert wurden, erklärt Perry-Gal. Wie sie ihren Weg in den Nahen Osten fanden, ist nicht bekannt; bewiesen ist jedoch, dass die Menschen dort schon Tausende Jahre mit Hühnern vertraut waren, bevor sie auf die Idee kamen, sie zu verspeisen. Stattdessen nutzten sie die Tiere zu rituellen Zwecken – oder sie hetzten zur Unterhaltung Hähne aufeinander.

Warum sie nicht schon früher darauf kamen, das Fleisch der Tiere zu probieren, wissen die israelischen Forscher nicht. Womöglich bestand eine Art Tabu, Geflügel zu verzehren, sagt Perry-Gal. »Alle möglichen Tiere werden in Textquellen aus jener Zeit als Nahrungsmittelquelle benannt, nur Hühner nicht. Sie werden stattdessen als außergewöhnliches Geschenk auf einer Beerdigung erwähnt.«

Mosaik Irgendwann zwischen dem vierten und dem zweiten Jahrhundert v.d. Z. endete die Schonzeit für das Federvieh. Was genau die Bewohner Marissas auf die Idee brachte, die Tiere in den Topf zu stecken, lässt sich nicht sagen. Allerdings sind Gründe denkbar, warum die kulinarische Revolution ausgerechnet dort geschah. »Marissa war eine Art New York der damaligen Zeit«, sagt Perry-Gal. »Dort lebte eine sehr gemischte Bevölkerung: Nabatäer, Edomiter, Juden, Griechen. Und alle brachten ihre eigenen Traditionen, Religionen, Sprachen und Gewohnheiten mit.« In diesem Mosaik von Kulturen konnten neue Ideen möglicherweise leichter erblühen als anderswo. Dazu kommt: Diese Ideen konnten sich von dort aus leicht verbreiten. Denn Marissa lag auf einer wichtigen Handelsroute zwischen Jerusalem und Ägypten, außerdem nicht weit entfernt vom Mittelmeer.

Die Forscher aus Haifa vermuten, dass die Bewohner Marissas Hühner nicht nur für den Eigenbedarf hielten, sondern auch damit handelten. »Wir haben mehr als 1000 Knochen gefunden«, sagt Perry-Gal. »Das weist auf eine regelrechte Industrie hin.«

Die Hühner wurden damals gekocht, vermutlich auch für Suppen verwendet, aber nicht gebraten oder gegrillt: Nur sehr wenige der Überreste tragen Spuren von Berührung mit Feuer, sagt die Forscherin.

Im ersten Jahrhundert v.d.Z. eroberten die Römer das Gebiet. Offenbar fanden sie Gefallen an der kulinarischen Spezialität aus Marissa, jedenfalls brachten sie die Speise nach Europa, wo sie sich rasch verbreitete. »Vom ersten Jahrhundert v.d.Z. an sieht man Hühner in fast allen Zentren des Römischen Reiches in Europa«, sagt Perry-Gal. »Ein richtiger Trend begann: Hühnerfleisch war etwas Neues, jeder wollte es haben.«

Aus jener Zeit stammen auch die ersten überlieferten römischen Kochanleitungen für Hühner, fügt die Forscherin hinzu. Eines der frühesten bekannten Rezepte verfasste der berühmte Koch Apicius, der zu jener Zeit lebte. Die Innovation der Menschen in Marissa war also »ein entscheidender Schritt« dafür, dass Hühnermast Einzug in Europas Landwirtschaft fand, stellen die Forscher in ihrer Studie fest. Mit weitreichenden Folgen: Im Durchschnitt verzehrt ein EU-Bürger heute 23 Kilo Geflügelfleisch pro Jahr. Allein das Fleisch vom Schwein ist noch beliebter.

Pflanzen Und Hühnerfleisch ist längst nicht die einzige kulinarische Innovation, die die Erde östlich des Mittelmeers hervorgebracht hat. Vor Kurzem entdeckte ein israelisch-amerikanisches Forscherteam Hinweise darauf, dass Menschen am Ufer des Sees Genezareth schon vor 23.000 Jahren Pflanzen als Nahrungsmittel angebaut haben – ganze 11.000 Jahre früher als bisher bekannt.

»Es ist eben eine kleine Region, die viele Überraschungen bereithält«, sagt die Archäologin Perry-Gal und fügt lachend hinzu: »Eigentlich genau wie heute.«

Haushaltslage im Land Berlin

Topographie des Terrors befürchtet Einschränkungen

Stiftungsdirektorin Andrea Riedle sieht vor allem die Bildungsarbeit gefährdet

 26.12.2024

Rezension

Fortsetzung eines politischen Tagebuchs

In seinem neuen Buch setzt sich Saul Friedländer für die Zweistaatenlösung ein – eine Vision für die Zeit nach dem 7. Oktober ist allerdings nur wenig greifbar

von Till Schmidt  26.12.2024

Medien

Antisemitische Aggression belastet jüdische Journalisten

JJJ-Vorsitzender Lorenz Beckhardt fordert differenzierte und solidarische Berichterstattung über Jüdinnen und Juden

 26.12.2024

Rezension

Ich-Erzählerin mit böser Wunde

Warum Monika Marons schmaler Band »Die Katze« auch von Verbitterung zeugt

von Katrin Diehl  25.12.2024

Bräuche

»Hauptsache Pferd und Kuh«

Wladimir Kaminer über seine neue Sendung, skurrile Traditionen in Europa und das Drecksschweinfest in Sachsen-Anhalt

von Nicole Dreyfus  25.12.2024

Dessau

Was bleibt

Am Anhaltinischen Theater setzt Carolin Millner die Geschichte der Familie Cohn in Szene – das Stück wird Anfang Januar erneut gespielt

von Joachim Lange  25.12.2024

Kolumne

Aus der Schule des anarchischen Humors in Minsk

»Nackte Kanone« und »Kukly«: Was mich gegen die Vergötzung von Macht und Machthabern immunisierte

von Eugen El  24.12.2024

Rezension

Die Schönheit von David, Josef, Ruth und Esther

Ein Sammelband bietet Einblicke in die queere jüdische Subkultur im Kaiserreich und der Weimarer Republik

von Sabine Schereck  24.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 19. Dezember bis zum 2. Januar

 23.12.2024