Dies ist Mirjams Presslers letztes Buch. Es ist zwei Monate nach ihrem Tod erschienen, ein Jugendbuch, das alles hat, was ein Jugendbuch braucht, um zu Leserinnen, zu Lesern zu finden und sie zu halten. Es weist eine stringente Handlung mit starkem Sog auf, die Personen besitzen große Authentizität, es bietet Möglichkeiten der Identifikation, und es wird darin in altvertrauter Art und Weise erzählt.
Wen wundert’s? Mirjam Pressler war – wie seltsam fühlt sich doch dieses »war« an, noch dazu, wenn man ein neues, druckfrisches Buch in Händen hält, auf dem ihr Name prangt – eine Vielschreiberin, eine große Erzählerin. Und sie war nach all den Jahren natürlich auch sehr routiniert in dem, was sie tat, ohne dass dabei ihre eigene, ihre erkennbare Handschrift verloren gegangen wäre, wozu überraschende Wendungen gehörten, aber auch eine Vielzahl von auf die handelnden Personen einwirkenden Momenten, auch die Wiedergabe unterschiedlicher (jüdischer wie nichtjüdischer) Perspektiven und vor allem ein deutlich »hörbarer« aufklärerischer Appell. Ging es um historische Stoffe – und darum ging es oft –, dann waren diese durchwirkt mit sorgfältig recherchiertem Wissen, was die Texte zu lebendigen Geschichtsbüchern werden ließ.
Dieses Buch, so etwas wie Presslers Vermächtnis, wird bleiben.
HOCHZEITSRING Was Mirjam Pressler Stoff und Inspiration für Dunkles Gold geliefert hat, war der »Erfurter Schatz« – ein Sensationsfund, auf den man 1998 bei Grabungen in der Nähe der Alten Synagoge der Stadt, mit über 900 Jahren die älteste erhaltene Synagoge Europas, gestoßen war und bei dem einem die Augen übergehen konnten. Bestand er doch aus unzähligen Silbermünzen, Schmuckstücken, gefertigt mittels feinster gotischer Goldschmiedekunst, Silbergeschirr, Gürtelschnallen.
Und vor allem war da dieser jüdische Hochzeitsring mit aufgesetztem, sich nach oben schraubendem Tempel und der Inschrift »MASEL TOW«. Man nimmt an, dass der Bankier und Geldverleiher Kalman von Wiehe, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts am Ausgrabungsort gelebt hatte, seinen Besitz vor dem Judenpogrom – auch als Pestpogrom bezeichnet – im März 1349 hatte retten wollen und ihn daher tief unten im Haus eingemauert hat.
Herzerschütternd lässt Mirjam Pressler Rachel von der Ermordung ihres Vaters Kalman erzählen.
Mit Mirjam Pressler springen wir ins heutige Erfurt: Die 15-jährige Laura muss eine Mutter ertragen, die als Kunsthistorikerin die Geschichte des Erfurter Schatzes akribisch untersucht und an beinahe nichts anderes mehr denkt. Laura nervt das gehörig. Sie wünscht sich ein wenig mehr mütterliche Beachtung. Trotzdem kommt das Mädchen bei so geballtem Expertenwissen in den eigenen vier Wänden nicht umhin, ziemlich viel über die mittelalterliche jüdische Gemeinde ihrer Stadt zu erfahren und am Ende selbst darüber zu fachsimpeln.
AUSDRUCK Außerdem zeichnet Laura gerne und auch sehr gut. Ihre Gedanken, ihre Sicht auf die Welt, bringt sie am besten in Bildern zum Ausdruck. So entsteht bei ihr die Idee zu einer Graphic Novel über Kalman von Wiehe, dessen Tochter Rachel – wie Laura 15 Jahre alt – und deren jüngeren Bruder Joschua. Bild für Bild begleitet Laura die vor dem Pogrom Fliehenden auf ihrem Weg nach Krakau.
Die Geschichten, die das Mädchen sich mit dem Stift in der Hand ausdenkt, werden in Mirjam Presslers Buch zur zweiten Zeit- und Erzählebene. Ein wundersamer Kniff, der jede einfallslose Zeitmaschine überflüssig macht und der einen lockeren Umgang mit dem Heute und dem Einst erlaubt. Ganz wichtig für Lauras Hier und Jetzt ist im Übrigen noch Alexej, »der Russe«, ein jüdischer Junge, in den sich Laura verliebt und über den vielleicht zum ersten Mal die aktuellen Übergriffe auf jüdische Kinder in deutschen Schulen Eingang in ein Buch als ein Stück Realität gefunden haben.
Wohl zum ersten Mal finden Übergriffe auf jüdische Schüler ihren Weg in ein Jugendbuch.
Die Pogrome des Mittelalters und heutige antisemitische Übergriffe stehen schon durch den Aufbau des Buches – Gegenwarts- und Vergangenheitskapitel wechseln einander ab – nebeneinander. Das wirkt. Thematisiert werden immer wieder Fettnäpfchen, in die man treten kann, wenn man Empfindlichkeiten und Sensibilitäten des anderen nicht kennt, weil Wissen oder Verständnis fehlt. Gezeigt wird da auch, was hilft, nämlich reden und nochmal reden.
SPICKZETTEL Und Laura redet ziemlich viel. Überhaupt neigen einige der Pro tagonisten in Dunkles Gold zum Dozieren. Mirjam Pressler will so viel sagen, so viel unterbringen. Manche Momente wirken konstruiert, damit Laura voller Engagement, aber auch voller Wut gegen antisemitisches Geplapper und antisemitische Hetze vorgehen kann. (Einiges von dem, was sie da sagt, wäre dazu geeignet, den Spickzettel manch eines Lehrers zu füllen, um auf antisemitische Sprüche und Sprachhülsen reagieren zu können.) Herzerschütternd lässt Mirjam Pressler Rachel von der Ermordung ihres Vaters Kalman von Wiehe durch Wegelagerer oder Judenhasser erzählen. Am Ende haben die beiden Mädchen, Rachel und Laura, fürs Erste ihren Platz in der Welt gefunden.
Mirjam Pressler hängt dem Roman eine aufklärende Nachbemerkung an, damit man alles, was passiert ist, historisch, politisch und gesellschaftlich einordnen kann. Vergangenes Jahr hatte sie bei einer Lesung dem Erfurter Publikum schon ein paar Kapitel aus Dunkles Gold vorgestellt, das sie kurz vor ihrem Tod vollendete und das jetzt bei ihrem Hausverlag Beltz & Gelberg erschienen ist. Und so viel steht schon jetzt fest: Dieses Buch, so etwas wie Presslers Vermächtnis, wird bleiben.
Mirjam Pressler: »Dunkles Gold«. Beltz & Gelberg, Weinheim 2019, 336 S., 17,95 €