Sommer in Berlin. Der Wannsee ist bedeckt mit Booten, Fähren bringen Ausflügler in die Gartenlokale und an die Badestellen. Unterhalb des Geländes der American Academy am Sandwerder gibt es einen Segelverein. Von hier aus kann man die Villa sehen, in der 1941 die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen wurde.
Für Judith Wechsler ein beklemmendes Gefühl. Die Kunsthistorikerin und Filmemacherin, Stipendiatin der American Academy, ist nach Deutschland gekommen, um über das Leben und Wirken ihres Vaters zu forschen, dem sie einen Dokumentarfilm widmen will. »Anfangs habe ich mich ständig gefragt, was ich hier in Berlin mache«, sagt die kleine, energische Frau bedächtig. »Ich kann nicht damit aufhören, hier ständig an den Krieg und die Schrecken der Vergangenheit zu denken. Als ich im Winter kam, bin ich fast einen Monat lang nicht aus dem Haus gegangen. Dann fing ich an zu telefonieren. Und in Konzerte zu gehen und in die Museen. In Museen fühle ich mich immer zu Hause.«
tanz Judith Wechsler ist eine Ausnahmeerscheinung. Erfolgreich als Akademikerin und als Künstlerin. Sie studierte bei Hugo Bergmann und Gershom Scholem, hat eine Vielzahl an Büchern und eine fast unüberschaubare Menge an Aufsätzen verfasst. 1972 promovierte sie mit einer Arbeit über Cézanne, ist eine weltweit anerkannte Spezialistin für französische Kunst des 19. Jahrhunderts, Professorin in Harvard, Jerusalem, Paris und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT). Und sie hat zwei Dutzend Filme gedreht, vor allem über Kunst. Viele davon wurden mit Preisen bedacht.
»Das akademische Leben allein hätte mich nicht glücklich gemacht«, lächelt sie, »ich muss einfach auch immer künstlerisch arbeiten.« Zuerst wollte Wechsler – die mit fünf Jahren eine Mädchen-Jeshiwa besuchte und mit sechs Rashi las – Tänzerin werden. Aber ihre Eltern bestanden auf einem Hochschulabschluss. Sie lebte eine Zeitlang in Israel, dann traf sie den Dokumentarfilmer Charles Eames. Eine entscheidende Begegnung. »Das Filmemachen ersetzte mir den Tanz. Die Bewegungen der Kamera sind eine Choreografie, die Bedeutung der Musik im Film ist dieselbe wie beim Tanz, der Schnitt bestimmt den Rhythmus.«
universal-gelehrter Judith Wechslers Vater stammt aus Lemberg: Nahum N. Glatzer, Jahrgang 1903, Lehrer am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt. Autor, Übersetzer, Kafka-Spezialist. 1920 hatten ihn seine religiösen und ebenso zionistischen Eltern – in deren Bücherschrank die Werke Goethes und Heines standen – zum Studium in die Stadt am Main geschickt. Wien oder Berlin erschien ihnen aufgrund des Angebots weltlicher Verführungen als zu gefährlich.
Glatzer traf in Frankfurt Agnon und Bialik, studierte Theologie, Philosophie und semitische Sprachen. »Hebräisch kannte er von zu Hause, Griechisch und Latein aus der Schule. Hinzu kamen nun Arabisch, Aramäisch, Syrisch und Babylonisch«, berichtet die Tochter stolz. »Seine Lehrer waren Paul Tillich, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Jacob Horowitz.« Noch als Student arbeitete Glatzer mit Buber und Rosenzweig an deren legendärer »Verdeutschung der Schrift«. Später verfasste er die erste Rosenzweig-Biografie und machte den Philosophen in den 50er-Jahren einer englischsprachigen Leserschaft bekannt. Nahum Glatzer verband – wie seine Tochter – in seinem Wirken vielfältige Interessen und Fähigkeiten.
schatzsuche »Bei meinen Recherchen«, berichtet Wechsler begeistert, »bin ich auf Akten gestoßen, die auflisten, welche Seminare er damals an der Universität belegte. Seine Dissertation hat mir die Frankfurter Universität sofort kopiert. In den staubigen Ordnern fanden sich auch handgeschriebene Briefe von Tillich, Horowitz und Buber, die nirgendwo zuvor verzeichnet waren. Es war ein unglaubliches Gefühl, als plötzlich auch der Pass meines Bruders und meine Geburtsurkunde zum Vorschein kamen. Nebst einem Brief von Max Horkheimer, der bestätigt, dass mein Vater einer der führenden Gelehrten auf seinem Gebiet war. Diese Dokumente stammen aus der Zeit nach dem Krieg und beziehen sich wohl auf einen Wiedergutmachungsantrag.«
Wechsler vertieft sich in die Schriften ihres 1990 verstorbenen Vaters, übersetzt seine Briefe und Erinnerungen. Das gesamte Material wird in das filmische Porträt Nahum Glatzers einfließen. »Filme über Kunst zu machen bedeutet, diese Arbeiten visuell zu interpretieren«, notierte Wechsler einmal. Das trifft auch für den Film über ihren Vater zu. »Die Welt, aus der er kommt, ist heute kaum noch bekannt«, bedauert sie. »Mich interessiert, was konnte er davon noch in den USA weitergeben? Nach Gesprächen mit ehemaligen Studenten meines Vaters weiß ich, dass er den Geist des Freien Jüdischen Lehrhauses durch seine Lehrtätigkeit in Boston, Chicago oder New York vermitteln konnte. Er prägte eine ganze Generation jüdischer Gelehrter, unter ihnen Paul Mendes-Flohr, Michael Fishbane und Susannah Heschel. Im Film kann ich zeigen, wie sehr er diese Vermittlung liebte. Es gibt Aufnahmen davon, man kann seine Stimme hören, wie er singt, wie er betet.«
Kindheit Als Motto für den Film zitiert Judith Wechsler Goethe: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.« Sie ist fasziniert von ihrem deutschen Familienerbe und dennoch froh, als Amerikanerin aufgewachsen zu sein. »In Deutschland hätte ich nie das tun können, was ich in den USA konnte«, betont sie. Sie habe eine glückliche Kindheit verbracht, »undramatisch, ohne Emigration. Meine Eltern haben mich geschützt. Über Deutschland haben sie nicht viel erzählt.«
Inzwischen hat Judith Wechsler auch Berlin schätzen gelernt. »Ich glaube nicht, dass ich es hier jemals gemütlich finden werde. Aber die Stadt hat ein Wissen um das, was geschehen ist. Das ist etwas Besonderes, und das hilft mir, hier zu sein. Und ich habe auch Menschen getroffen, mit denen ich sehr offen reden kann. Ich will wiederkommen. Zum Forschen. Und weil ich dieses Land schrecklich interessant finde.«