Rudi Gauls Debüt Das Zimmer im Spiegel, der diese Woche in die Kinos kommt, spielt während der Nazizeit. Seine Hauptfigur ist eine Jüdin. Doch ein zeitgeschichtliches Drama ist der Film nicht. Der Holocaust ist nur Anlass für den Regisseur, in eindrucksvollen wie eigenartigen Bildern zu zeigen, welche Auswirkungen physische und psychische Isolation auf eine Frau haben können.
Die Jüdin Luisa wird während des Zweiten Weltkriegs von ihrem »arischen« deutschen Mann vor den Nazis in einer leer stehenden Münchener Dachgeschosswoh- nung versteckt. In dem Raum stehen nur die nötigsten Möbel – und ein Spiegel. Anfangs kommt Karl von Zeit zu Zeit, bringt Luisa Kaffee und verbotene Bücher, die er mithilfe einer Freundin besorgt, einer Schauspielerin namens Judith. Doch Karl ist kalt und distanziert; der Zuschauer beginnt zu ahnen, dass etwas nicht stimmt. Nach einer Weile hören die Besuche auf. Mit dem Verschwinden Karls, der nicht nur Luisas Liebe ist, sondern auch ihre einzige Verbindung zur Außenwelt, verschwindet auch sukzessive die klare Wahrnehmung bei der Eingeschlossenen. Luisa wird zunehmend paranoid, spült nicht einmal mehr die Toilette, aus Angst, gehört und entdeckt zu werden. Jedes Geräusch, das von außen an ihr Ohr dringt, ist eine Mischung aus Hoffnung – dass es Karl sein könnte – und Angst – aufgespürt zu werden. Als Luisa kurz vor dem endgültigen psychischen Zusammenbruch steht, taucht plötzlich Judith auf. Aber ist sie es tatsächlich? Oder fantasiert Luisa nur?
Der Regisseur nutzt offenkundig Motive von Lewis Carroll, um Luisa ein Wunderland zu schaffen, in das sie sich vor den Schrecken ihrer Lage flüchten kann. Gleichzeitig erinnert Das Zimmer im Spiegel auch an eine Arbeit zweier anderer Lewis-Carroll-Fans, der Wachowski-Brüder und ihren Kultthriller Bound von 1996. Auch dort hilft eine starke Frau einer schwachen aus der Falle, wie hier Judith Luisa aus der Realität in eine Welt führt, von der sie immer nur geträumt hat. Und hier wie dort hat die Beziehung zwischen den beiden Frauen auch prononcierte sexuelle Aspekte.
Der dritte Protagonist ist der Spiegel im Zimmer. Vor ihm macht sich Luisa für Karls Besuche schön, aus ihm tritt die Fantasiefigur eines Bassisten, vor ihm kommt der Film zu seinem atemberaubenden Finale.
Kirstin Fischer spielt die Luisa mehr als nur überzeugend. Die schwierigste Prüfung für Schauspieler ist, ob sie auf der Leinwand schweigen können. Fischer besteht diesen Test mit Bravour. Während der gesamten ersten Hälfte des Films ist sie mit wenigen Ausnahmen völlig alleine auf der Leinwand und schafft es, nur auf sich gestellt, den Zuschauer zu fesseln. Den langsamen Zerfall von Luisas Geisteszustand kann man auf ihrem Gesicht lesen wie in einem Buch. Von Seite zu Seite versinkt sie immer mehr im Wahn. Beeindruckend auch Eva Wittenzellner, die die Judith als eiskalte Femme fatale gibt und den Zuschauer bis zum Ende im Ungewissen über sich lässt.
Schwer nur zu sagen, ob dieser Film ein Geniestreich ist, oder der Trip eines größenwahnsinnigen Filmhochschulabsolventen. Vielleicht beides. Egal: So oder so ist Das Zimmer im Spiegel eines jedenfalls nicht – langweilig.