Der jüdischen Tradition zufolge haben wir den Zusammenhalt der Welt – die Tatsache, dass die Schöpfung trotz aller darin stattfindender Gräuel noch nicht ins ursprüngliche Nichts zurückgefallen ist – allein dem Torastudium unserer Gelehrten zu verdanken.
Unsere säkularen Denker haben es da in Sachen Anerkennung deutlich schwerer. Auch oder vielmehr gerade weil ihr Tun zuweilen – man denke an den, um Thomas Mann zu zitieren, »auf den Himmler gekommenen« Nietzsche, an Karl Marx, Kambodscha, Gulag und den Todesstreifen – ernste und zuweilen fürchterliche Auswirkungen auf unsere gelebte Wirklichkeit hat, werden sie gerne beiseite geschoben und übersehen.
Umso mehr ist zu begrüßen, dass es die Stadt Dessau-Roßlau als Trägerin der 2009 auf Initiative der Mendelssohn-Forscherin Eva Engel wiederbegründeten »Moses-Mendelssohn-Stiftung zur Förderung der Geisteswissenschaften von 1929« auf sich genommen hat, zu Ehren ihres großen Sohnes alle zwei Jahre einen Moses-Mendelssohn-Preis zu vergeben, um solche unbesungenen Helden des Denkens zu ehren.
AHNENREIHE Jedenfalls, soweit sie sich um Moses Mendelssohn verdient gemacht haben, den »Weltweisen«, dessen ganzes Tun und Trachten darauf ausgerichtet war, dem Menschen in einer nun einmal unvollkommenen Welt durch vernünftiges Denken und moralische Prinzipien (an die sich, wovon Mendelssohn stets ausging, die Menschheit niemals durchgängig halten würde) eine Besserung der eigenen Lage und der gesellschaftlichen Umstände zu ermöglichen.
Goetschel geht von einem sich über Generationen erstreckenden geistigen Austausch aus.
Und noch erfreulicher, dass dieser Preis nun an den schweizerisch-kanadischen Philosophieprofessor Willi Goetschel geht, der sich nicht nur als profunder Kenner des Aufklärungsphilosophen erweist, sondern Mendelssohn als Repräsentanten des jüdischen Beitrags zum modernen europäischen Denken in eine Ahnenreihe einordnet, die mit Spinoza beginnt und von Heinrich Heine fortgeführt wird.
Ein Philosophieverständnis, das insofern sehr »jüdisch« ist, als Goetschel ganz selbstverständlich von einem sich über Generationen und Jahrhunderte erstreckenden geistigen Austausch ausgeht. Wobei Goetschel, wie seine Helden, das spannungsvolle und spannende Verhältnis zwischen der »Partikularität« ihrer jüdischen Existenz und ihrer gleichzeitigen Teilhabe am großen allgemeinen Ganzen untersucht.
Welch origineller Denker Goetschel ist, zeigt sich daran, dass er ausgerechnet in Heinrich Heine, der mit seiner Taufe »das Entréebillet zur europäischen Kultur« löste, den Nachfolger Moses Mendelssohns erkennt, der Wert darauf gelegt hatte, beides – »Weltweiser« und praktizierender Jude – gleichzeitig zu sein. Doch auch Heine hat sich, über seine begeisterten und tiefgründigen Spinoza-Studien hinaus, stets entschieden zu seinem Judentum im Sinne von Abstammung und geistiger Prägung bekannt und ist von Zeitgenossen wie von der Nachwelt (man denke an den Nazi-Vermerk »Dichter unbekannt« bei Heines »Loreley«) stets als Jude verstanden worden.
EIGENHEIT Alle drei – Spinoza, die Spinoza-Kenner und Vermittler Mendelssohn und Heine – wollten dabei laut Goetschel die Eigenheit und Eigenständigkeit des Judentums in einer Welt bewahren, in der »Religion« zu einem Rechts- und Besitztitel geworden ist, womit sie sich von der »lebendigen Tradition« des Judentums unterscheidet. »Cuius regio, eius religio«; wer über ein Gebiet verfügte, bestimmte die Religion zu Zeiten Spinozas, der dabei gleich von zwei Seiten unter Druck geriet – einerseits durch die »offizielle« staatliche Zensur und andererseits durch die Amsterdamer jüdisch-sefardische Gemeinde, die mit ihrer penibel eingeforderten Glaubensstrenge auf ungute Weise die eigene Inquisitionserfahrung verarbeitete.
Mendelssohn wandte sich gegen eine weltliche Machtausübung der Religion.
Während Mendelssohn sich in seiner knapp bemessenen aktiven Lebenszeit (er wurde nur 57), die ziemlich exakt der kurzen Blütezeit der deutschen Aufklärung entspricht, zumindest als gleichberechtigter Teilhaber einer geistigen »Gelehrtenrepublik« verstehen konnte, war dies für Heinrich Heine in der das judenfeindliche Mittelalter verklärenden Romantik nicht mehr möglich.
SATZZEICHEN Goetschel lässt sich durch ein bescheidenes Satzzeichen – den Bindestrich in Spinozas Tractatus Theologico-Politicus – zu einer (im Internet frei erhältlichen) Abhandlung über die Aktualität von Spinozas Fragestellung – das Spannungsverhältnis von Politik und Religion – anregen, um dann die Bedeutung von Mendelssohns Konjunktion »und« in dessen Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) weiter auszuführen, wo sich Mendelssohn gegen eine weltliche Machtausübung der Religion stellt, um dann mit Heines grimmiger Kritik an der »Spottgeburt Staatsreligion« fortzufahren und mit Überlegungen des französisch-sefardischen Denkers Jacques Derrida zu Spinoza und Mendelssohn zu enden.
Kurz, mit Goetschel wird ein Denker geehrt, der auf ebenso profunde wie witzige Weise seine philosophischen Helden als Deuter und Mitgestalter der eigenen Gegenwart begreift und dies auf lebendige Weise vermitteln kann. Wenn Spinoza, wie Heine schreibt, von einem »gewissen Hauch« umweht wurde, den Heine mit den »Lüften der Zukunft« und dem »Geist der Propheten« in Verbindung bringt, hat ein ferner Ableger dieses Windhauchs auch Willi Goetschel gestreift, den Kenner und Deuter unserer weltlich-jüdischen Denk- und Geistesgrößen, der am 1. März im Stadttheater Dessau den Moses-Mendelssohn-Preis erhält.
Stephen Tree ist Verfasser der Biografie »Moses Mendelssohn« (Rowohlt 2007) und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Moses-Mendelssohn-Stiftung.
Willi Goetschels Aufsatz »The Hyphen in the Theological-Political: Spinoza to Mendelssohn, Heine, and Derrida« findet sich hier.