Über Hundertjährigen begegnet man selten im Leben. Über hundertjährigen Hollywoodlegenden noch seltener. Ich hatte vor etwas über drei Jahren dieses rare Erlebnis.
Das war im September 2011. Luise Rainer war nach Berlin gekommen. Anlass war die Widmung eines Sterns für sie auf dem »Boulevard der Stars« am Potsdamer Platz, wo nach dem Vorbild des »Walk of Fame« in Hollywood große Persönlichkeiten des deutschen Films geehrt werden.
Gemeinsam mit anderen hatte die Jüdische Allgemeine sich für die Ehrung stark gemacht, nachdem Luise Rainer bei der Eröffnung des »Boulevards« 2010 vergessen worden war – ausgerechnet die einzige deutsche Oscar-Gewinnerin, zudem eine der wenigen Actricen, die den Academy Award gleich zweimal erhalten hatte: 1936 für The Great Ziegfeld, ein Jahr darauf, 1937, für The Good Earth. MGM-Chef Louis B. Mayer hatte die 1910 in Düsseldorf geborene Tochter einer deutsch-jüdischen Familie 1935 aus Wien, wo sie unter Max Reinhardt gespielt hatte, nach Hollywood engagiert. Dort, auf dem Original-»Walk of Fame« hatte man sie selbstverständlich verewigt.
Luise Rainer empfing mich – nur dieses Verb passt zu ihrem Gestus einer wahren Diva – in ihrer Hotelsuite. In einem Sessel sitzend, eingerahmt von Kissen, ließ sie von ihrer mitgereisten Zofe den Tee servieren.
Die Schauspielerin wirkte auf den ersten Blick klein, wie ein verletzliches Vögelchen. Doch dieser Eindruck währte nur kurz, bis sie zu reden begann. Als Erstes kritisierte die geistig rege alte Dame den Schaumwein, den man ihr bei der Feier ihres Sterns serviert hatte – »Zu süß. Was ich wirklich liebe, ist Champagner« –, erzählte dann von ihrer Freundin Greta Garbo und schwärmte von dem »schönen, jungen Mädchen mit dem langen Hals und den Givenchy-Kostümen, wie hieß sie gleich, ach ja, Audrey Hepburn«.
fellini Luise Rainers Stimme klang zwar leise und gelegentlich brüchig. Aber was sie sagte, war klar und äußerst bestimmt. Hollywood mit seinem Starrummel und seinen Äußerlichkeiten war ihr zuwider: »Ich mochte das Filmgeschäft nie!« Die Frage nach ihren zwei Oscars tat sie mit einem kühlen »Ja, ich habe sehr viel Glück gehabt« ab. Auch manche Ikonen der Kinogeschichte verloren bei ihr jeglichen Nimbus. Warum sie Ende der 50er-Jahre Fellinis Angebot, sie in La dolce Vita zu besetzen, abgelehnt hatte, wollte ich wissen »Ich fand die Story blödsinnig!« Anita Ekberg, die »im Trevi-Brunnen steht und jault wie ein Hund« war für sie einfach nur »vulgär«.
Nicht, dass Luise Rainer nur in der Vergangenheit lebte. Trotz ihrer damals 101 Jahre war sie cineastisch auf dem Laufenden, lobte Julia Roberts – »eine wundervolle Schauspielerin« – und verriet mir noch ihren Lieblingsfilm: Chariots of Fire (deutsch: Die Stunde des Siegers) von 1981, die wahre Geschichte des britisch-jüdischen 100-Meter-Läufers Harold Abrahams, der bei Olympia 1924 in Paris trotz diverser antisemitischer Widrigkeiten die Goldmedaille gewann.
Dann wurde ich huldvoll entlassen – »Ich bin jetzt müde« – und verließ die Suite mit dem Gefühl, als sei ich selbst gerade Teil einer Filmszene gewesen.
Am 30. Dezember 2014 ist Luise Rainer im Alter von 104 Jahren in London gestorben. Ich werde sie ganz bestimmt nie vergessen.