Gelobt sei der gutsortierte Handapparat, muss sich so mancher Feuilletonist hierzulande gedacht haben, als Mats Malm, der Ständige Sekretär und Sprecher der Schwedischen Akademie in Stockholm, am vergangenen Donnerstag den Namen der diesjährigen Trägerin des Literaturnobelpreises verkündete, die bis dahin vornehmlich passionierten Amerikanisten und eingefleischten Lyrik-Liebhabern eine Vertraute gewesen sein dürfte.
Geehrt wird die 77-jährige Dichterin Louise Glück »für ihre unverwechselbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht«, wie die Akademie ihre Wahl begründete.
Eine Überraschung, so die einhellige Reaktion – auch weil Glück im angelsächsischen Raum zwar spätestens seit der Veröffentlichung ihres mit dem Pulitzer-Preis prämierten Gedichtbands The Wild Iris (1992) als »eine der außergewöhnlichsten Poetinnen Amerikas« (»New York Times«) angesehen ist, es mit ihrer Bekanntheit im nicht-englischsprachigen Europa indes nicht weit her ist.
FAMILIE Nun also Louise Glück. Am 22. April 1943 in New York in eine jüdische Familie geboren, verbrachte sie ihre vom frühen Tod der älteren Schwester überschattete Kindheit auf Long Island.
Der Vater, ein verhinderter Schriftsteller, begründete seinen späteren Erfolg als Geschäftsmann mit der Vermarktung des von ihm gemeinsam mit seinem Schwager erfundenen und in den USA bis heute unter dem Namen »X-Acto Knife« weitverbreiteten skalpellartigen Präzisions-messers; die Mutter führte trotz ihres Abschlusses am namhaften Wellesley College den familiären Haushalt.
Während Glücks Großeltern väterlicherseits ungarische Juden sind, entstammt ihre Mutter einer russisch-jüdischen Familie. Auf Long Island führten die Glücks, so sollte es die Dichterin später einmal sagen, ein durch und durch säkulares Leben.
Die großen Themen ihres Lebens wurden zu den großen Themen ihres Werks.
Vom Kindesalter an von ihren Eltern an griechische Mythologie und klassische Literatur herangeführt, begann Louise Glück schon früh mit dem Schreiben. Als junge Frau entwickelte sie eine Anorexia nervosa – eine Erkrankung, über die sie sich selten so intim äußern wird wie im Jahre später erschienenen Gedicht »Dedication to Hunger«: »It begins quietly / in certain female children: / the fear of death, taking as its form / dedication to hunger, / because a woman’s body / is a grave; it will accept / anything.«
Es folgte eine siebenjährige Psychoanalyse, während derer sie sich am renommierten Sarah Lawrence College und der New Yorker Columbia University von Léonie Adams und Stanley Kunitz in der Kunst der Dichtung unterweisen ließ.
Glück war 25 Jahre alt und hatte ihre Magersucht überwunden, als sie 1968 mit dem von der Kritik hoch gelobten Lyrikband Firstborn debütierte. Die großen Themen ihres Lebens wurden zu den großen Themen ihres Werks: Mythologie. Psychoanalyse. Natur. Begierde. Trauma. Die großen Ambivalenzen Tod und Liebe, Ablehnung und Neuanfang.
judentum Nach einer schweren Schreibblockade legte sie 1975 mit The House on Marshland und 1980 mit Descending Figure einen zweiten und dritten Lyrikband vor; 1985 folgt The Triumph of Achilles. Darin widmete sie mit »Legend« ein Gedicht ihrem einst aus Ungarn nach Amerika eingewanderten Großvater: »My father’s father came / to New York from Dhlua: / one misfortune followed another. // In Hungary, a scholar, a man of property. / Then failure: an immigrant / rolling cigars in a cold basement. // He was like Joseph in Egypt. / At night, he walked the city; spray of the harbor / turned to tears on his face.«
1990 veröffentlichte Glück die unter dem Eindruck des Todes ihres Vaters (»So this was special: when a man’s dying, / he has a subject«) entstandene Gedichtsammlung Ararat, die ihrerseits Bezüge zum biblischen Arche-Noah-Narrativ enthält und überwiegend die Sujets Erinnerung und Schmerz thematisierte: »Long ago, I was wounded. I lived / to revenge my-self / against my father, not / for what he was – / for what I was: from the beginning of time, / in childhood, I thought / that pain meant / I was not loved. / It meant I loved.« Weitere Lyrikbände folgten; bis heute umfasst Glücks Gesamtwerk zwölf Gedicht- und zwei Essaysammlungen.
Das Attribut der »austere beauty«, für die Glück nun der Nobelpreis zuerkannt wurde, nur mit dem naheliegenden »streng« zu übersetzen, wird der gewürdigten Dichtung gleichwohl nicht gerecht. Vielmehr besticht sie durch ihren nüchternen bis kargen, ernsten bis harten Tonfall. Glücks an Emily Dickinson und Rainer Maria Rilke erinnernde Dichtung ist bisweilen schonungslos und stets von größter Feinheit und Intelligenz. Dabei erscheint im Angesicht der unnachgiebigen Präzision, mit der sie Sprachbilder von konziser Schärfe zeichnet, der Anteil ihres Vaters an der Entwicklung und Vermarktung des X-Acto-Messers nachgerade pointiert.
Die Sprachgewalt von Glücks Lyrik lässt sich nur schwer ins Deutsche übertragen.
Glück sei eine Schriftstellerin, »für die Worte stets rar und hart erkämpft sind und nicht verschwendet werden dürfen«, notierte der amerikanische Dichter und Autor Craig Morgan Teicher in der »New York Times« einmal; »Prosa ist für sie höchstwahrscheinlich mindestens ebenso schwierig abzufassen wie Poesie, und sie hat bekannt, dass es für sie sehr mühsam ist, Poesie zu verfassen«. Befasst man sich mit der Biografie von Louise Glück, kann man diese Mühen, diese Kämpfe, nur erahnen.
Glücks Kenntnisse der griechischen Mythologie sind ausgezeichnet, wie sie vielfach unter Beweis gestellt hat. Als am 11. September 2001 das World Trade Center zusammenbrach, reagierte die Lyrikerin mit dem Gedichtband October, der voller Bezüge zur Antike ist. Der Titel sollte auf die Zeit nach dem September hinweisen, wenn der Staub sich gelegt hat und das Gedenken an die Opfer beginnt.
Mythologie In October beschwört Glück die antike Mythologie mit ihren Ritualen von Trauer und Leid herauf, in der Hoffnung, durch diesen historischen Rückgriff das nationale Trauma fühlbar und damit weniger kriegerisch und destruktiv zu machen. Der Lyriker und Kritiker Mark Strand schrieb damals: »In der Jahreszeit des Herbstes, der dunklen Zeit, geschrieben, ist Louise Glücks Stimme stärker, direkter, noch emotionaler aufgeladen als je zuvor. Dieses Poem ist ein Meisterwerk, gerade weil es voller Schönheit steckt, aber diese nie mit Erlösung verwechselt.«
Während jüdische Motive in ihrem Werk rekurrierend auftreten, bleibt Glücks Verhältnis zu ihrem eigenen Judentum stets von einer gewissen Ambivalenz geprägt. So äußerte sie dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Daniel Morris gegenüber: »Wir hatten eine rudimentäre jüdische Erziehung. Wir lebten in einem jüdischen Vorort, aber der Umgang mit jüdischen Bräuchen war, wie ich mich erinnere, zwanglos. Wir alle feierten Weihnachten, ohne Baum. Freitags zündeten wir keine Kerzen an. Mit der Familie meiner Mutter kamen wir aber zu den Hohen Feiertagen zusammen.«
Glücks Lyrik besticht durch ihren nüchternen bis kargen, ernsten bis harten Tonfall.
In beiden aus Osteuropa in die Vereinigten Staaten immigrierten Familienzweigen seien indes »keinerlei Überbleibsel anderer Sprachen erhalten geblieben. Nur der Bruder meiner Mutter beherrschte etwas Hebräisch«. Wenig überrascht daher auch, dass sich Glück gegen Vereinnahmungen ihrer Person, etwa als »jüdisch-amerikanische« oder »feministische« Dichterin, verwahrt.
Dass die als menschenscheu geltende Lyrikerin im deutschsprachigen Raum bislang weitgehend unbekannt war, kann nur teilweise damit erklärt werden, dass sich die Sprachgewalt von Glücks Lyrik nur schwer ins Deutsche übertragen lässt. Die beiden einzigen von ihrer Schriftstellerkollegin Ulrike Draesner übersetzten Gedichtsammlungen, Averno (2007) und The Wild Iris (2008), sind heute vergriffen und selbst antiquarisch nicht mehr zu beziehen.
Auszeichnungen Indes ist Louise Glück für ihr nunmehr ein halbes Jahrhundert umspannendes poetisches Werk mit nahezu allen wichtigen Auszeichnungen des amerikanischen Literaturbetriebs bedacht worden, darunter der William Carlos Williams Award (1992), der Pulitzer-Preis für Dichtung (1993) und der National Book Award for Poetry (2014). Darüber hinaus wurde sie United States Poet Laureate der Library of Congress, erhielt zweimal das Guggenheim-Stipendium und ist »Elected Member« der American Academy of Arts and Sciences, der American Philosophical Society sowie der American Academy of Arts and Letters.
Von letzterer wurde Glück 2015 mit der Gold Medal in Poetry geehrt, im selben Jahr zeichnete sie US-Präsident Barack Obama mit der renommierten National Humanities Medal aus. Zuletzt wurde ihr im Frühjahr 2020 der nach dem Literaturnobelpreisträger von 2011 benannte Tranströmer-Preis zugesprochen. Neben ihrem dichterischen Schaffen lehrt Glück Kreatives Schreiben an der Stanford University. Seit 2004 wirkt sie zudem als Rosenkranz Writer in Residence an der Yale University in New Haven, Connecticut.
Mit der Wahl Louise Glücks zur Literaturnobelpreisträgerin hat die Schwedische Akademie eine weise, eine erfrischende Entscheidung getroffen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sie die Ehrung in einem Jahr bekommt, in dem eine schwere Pandemie herrscht, und ihr Land, die Vereinigten Staaten, der therapeutischen Funktion von Literatur dringend bedarf.
Und endlich darf noch inständiger gehofft werden, dass ihr Werk nun umfassender ins Deutsche übersetzt und dieser großen amerikanischen Dichterin damit ein angemessener Platz auch in der deutschsprachigen Lyriklandschaft zuteil wird.