Literatur

»Die Bücher wählen mich aus«

Ein Leben für die Literatur: die deutsch-israelische Übersetzerin Ruth Achlama Foto: pr

Kurz vor dem Abitur sollte unsere Klassenlehrerin die Schülerinnen – es war, wie damals üblich, ein reines Mädchengymnasium – nach ihren Berufswünschen fragen. Ich stammelte etwas von Übersetzen und Büchern oder vielleicht Jura wie mein Vater, bis sie ungeduldig sagte: »So gut übersetzen können Sie ja auch wieder nicht.« (Zu ihrer Ehre sei angemerkt, dass sie sich 40 Jahre später, nach Erscheinen von Amos Oz’ Meisterwerk Eine Geschichte von Liebe und Finsternis in meiner Übersetzung, mit einem lobenden Brief quasi bei mir entschuldigt hat.)

Den Rest gab mir eine Mitschülerin mit der realistischen Bemerkung: »Wenn du Bücher übersetzen willst, müsstest du wohl einen Verlegersohn heiraten.« Dies erschien mir unpraktisch, zumal meine Heimatstadt Mannheim eine florierende Industrie- und Handelsstadt war, aber an Verlagen praktisch nur den Duden-Lexikonverlag zu bieten hatte. So studierte ich viel Verschiedenes, was fürs Übersetzen günstig ist, weil Schriftsteller und Sachbuchautoren alle möglichen Sachgebiete beackern.

Im Oktober 1974 in Israel eingewandert, besuchte ich einen mehrmonatigen Hebräischkurs. Gegen Ende sollten wir Schüler einen Bewerbungsbrief für unseren Wunschberuf verfassen. Ich sagte der Lehrerin zaghaft, ich würde gern schreiben, dass ich Bücher ins Deutsche übersetzen wolle, am liebsten Amos Oz, dessen zweiten Roman Mein Michael ich mithilfe der englischen Übersetzung gerade im Original zu lesen versuchte. Zu meiner Freude sagte sie nicht, ich sollte lieber mit der Übersetzung von Bürobriefen oder Gebrauchsanweisungen anfangen, sondern bestärkte mich in meinem Wunsch. Gut zehn Jahre später bekam ich den Auftrag für Der perfekte Frieden, meinen ersten Oz, dem zehn weitere folgen sollten.

Yoram Kaniuk vertraute mir als völligem Neuling sein Werk an.

Mein erster Roman war aber Wilde Heimkehr von Yoram Kaniuk, dem ich für immer dankbar bin, dass er mir als völligem Neuling sein Werk anvertraut hat. Ich habe später noch fünf weitere Romane von ihm übersetzt, darunter sein großartiges Kriegsbuch 1948, dessen internationalen Erfolg er noch erleben durfte.

Lücke Wie wähle ich die Bücher aus? Insgesamt kann ich sagen, dass die Bücher eher mich auswählen. Wegen einer günstigen Konstellation wurden mir nach Sachtexten, teils noch aus dem Englischen, und einem interessanten Buch der Historikerin und späteren Israelpreisträgerin Shulamith Shahar über Frauen im Mittelalter die schönsten Romane angeboten. Unser damaliger Kollege und spätere Literaturprofessor Jakob Hessing wollte gerade in dem Moment aufhören zu übersetzen, als die Nachfrage nach hebräischer Literatur stieg, und die in den 30er-Jahren eingewanderten deutschen Juden wollten sich entweder zur Ruhe setzen, oder ihr Deutsch wurde von den Verlagen als veraltet empfunden.

Genau diese Lücke konnte ich nutzen. Ende 1981 durfte ich eine Übersetzungsprobe für meinen ersten Kaniuk-Roman anfertigen, der mir den ersten Roman von Amos Oz brachte, der wiederum seinen Freund Abraham Jehoschua nachzog, und danach war ich zeitweise zwei Jahre im Voraus ausgebucht, weil noch die Backlist aufgearbeitet wurde, nach dem Motto: Der Autor hat noch nichts Neues geschrieben? Dann machen wir doch erst einmal eines seiner älteren Werke. Das ist vorbei. Die Backlist ist übersetzt. Heute soll die deutsche Ausgabe am liebsten zeitnah zum Original erscheinen.

Ich nehme nur Prosa, keine Lyrik an, aber zum Glück versuchen sich große Dichter manchmal auch an Prosa. So konnte ich Jehuda Amichais Roman Nicht von jetzt, nicht von hier übersetzen und mit Asher Reich und seiner Frau Elisheva zwei wunderbare Freunde gewinnen. Sie führten meinen Mann und mich in die anregende Welt Tel Aviver Literaten und Literaturwissenschaftler ein, nachdem wir uns wegen Ashers Roman Erinnerungen eines Vergesslichen kennengelernt hatten, dem später der Erzählungsband Ein Mann mit einer Tür folgte.

Es ist wunderbar, wenn man das Werk eines Autors durchgehend übersetzen kann.

Interviewer fragen manchmal skeptisch, ob ich denn auch junge Autoren hätte, was ich zu meiner Freude bejahen kann. Ayelet Gundar-Goshen, Jahrgang 1982, wird mittlerweile in viele Sprachen übersetzt, aber meine deutsche Übertragung ihres preisgekrönten Debüts Eine Nacht, Markowitz war die erste. Die deutsche Ausgabe wurde ein großer Erfolg, und ihr zweiter Roman, Löwen wecken, ein noch größerer. Auch die Erstlingswerke von anderen jungen Schriftstellern, wie Ron Segal und Ayman Sikseck, sind bei mir gelandet.

Es ist wunderbar, wenn man das Werk eines Autors durchgehend übersetzen kann, wie bei Meir Shalev, von dem ich sämtliche Romane und noch zwei wunderbare Bücher übertragen habe, aber auch einmal andere Aufgaben erhält. Wenn man ins Deutsche übersetzt, kommen gelegentlich Lebensgeschichten von Holocaust-Überlebenden. Das ist wichtig und bewegend, und die Begegnung mit den Betreffenden ist schön.

Auch ein Sachbuch bringt willkommene Abwechslung. Manchmal schreibt ein Romancier mal etwas anderes: Meir Shalev über die Bibel oder seinen Wildgarten, Amos Oz über das Werk von S. J. Agnon oder Buchanfänge. Und 2017 ging für mich ein weiterer lang gehegter Wunsch in Erfüllung, als ich Tom Segevs monumentale Ben-Gurion-Biografie übersetzen durfte.

Schwung Wie gehe ich an ein neues Buch heran? Kurz gesagt, völlig intuitiv. Ich lese die ersten drei, vier Seiten so langsam, wie man laut liest, nehme sie in mich auf, horche, ob und wie sie auf Deutsch widerklingen. Daraufhin entscheide ich, ob ich das Buch übernehmen kann und möchte. Ist der Vertrag abgeschlossen, übersetze ich in schnellem Schwung. Danach geht es ans Korrigieren und Ausfeilen, in mindestens drei Durchgängen, davon einmal unter sorgfältiger Abgleichung mit dem Original. Ich darf nicht groß nachdenken über meine Arbeitsweise, sonst blockiert das die Sprachverwandlung. Ein Nebenvorteil dieser Methode: Man erfasst instinktiv die Satzmelodie, die Musik des Werkes.

Um noch eine oft gestellte Frage zu beantworten: Ich entdecke das jeweilige Buch gern erst beim Übersetzen. Aber wenn ich es zuvor lesen musste, beispielsweise, um ein Verlagsgutachten zu schreiben, ist es auch gut. Dann freue ich mich schon auf die schönsten Stellen.

Jedenfalls gibt es nicht die eine, einzige Methode, ein Buch zu übersetzen. Es kommt nicht auf den Weg an, sondern auf das Ergebnis – ein Buch, das in der Übersetzung möglichst genauso funktioniert wie im Original. Die Leser sollten dieselben Stimmungen durchleben, an den richtigen Stellen lachen oder traurig sein.

Wortfamilien Ist die Sprachkombination Hebräisch-Deutsch besonders schwierig? Bei dieser Frage ernte ich meist verblüffte Gesichter, denn ich behaupte aus meiner langjährigen Praxis, dass sich Hebräisch und Deutsch in mehrfacher Hinsicht ähnlich sind, was die Arbeit erleichtert.

Beide Sprachen haben Wortstämme beziehungsweise Wortfamilien, mit denen sich vortrefflich spielen lässt. Nehmen wir den hebräischen Wortstamm HaLaCh – gehen. Daraus entstehen unter anderem Halacha, Halicha, Helech, Halich – Religionsgesetz, Gangart, Wanderer, Verfahren – und viele Verbformen. Ähnlich wie man im Deutschen aus dem Verb »gehen« Gang, Ausgang, Zugang, Vorgang, Untergang, Gangart und mit Vorsilben viele Verben machen kann. Im Englischen hingegen gibt es fast für jedes Wort einen eigenen Begriff, was Assoziationen oder Wortspiele seltener zulässt. Beide Sprachen können sehr leicht zusammengesetzte Wörter bilden – darunter auch humoristische Neuschöpfungen.

Beide Sprachen haben maskuline und feminine Formen. Interessant wird das in der Literatur zum Beispiel bei Tieren. Als ich meinen ersten Oz-Roman übersetzte, sammelte ich einige Fragen, die sich anhand der bereits vorhandenen englischen Übersetzung nicht lösen ließen, und fuhr mit meinem Mann nach Hulda.

Schildkröte In Der perfekte Frieden kommt eine Schildkröte namens Jonathan vor. Nun ist das hebräische Wort, Zav, maskulin, die deutsche Schildkröte aber feminin. Ich fragte Amos, ob man durchgehend eine männliche Form suchen müsste oder nur dort, wo das Wort zusammen mit dem Namen stand. Wie gedacht, war Letzteres richtig. Im Deutschen gibt es übrigens viel mehr Tiere, deren Gattungsnamen weiblich sind, nicht nur die Schildkröte, sondern auch Katze, Maus, Schlange und andere.

Deutsch kann, wie das Hebräische, erstaunlich kurz und knapp sein. Amos Oz berichtete einmal in einem Interview, der aus nur drei Wörtern bestehende Anfangssatz seiner Erzählung »Dem Tod entgegen« brauche in der englischen Übersetzung zwei Zeilen. Wir haben nachgeschaut: »Techila ragschu haKfarim«, heißt es im Original. »Zuerst rumorten die Dörfer«, steht in meiner Übersetzung. Vier Wörter, weil der Artikel im Deutschen getrennt steht, aber die Silbenzahl ist gleich. (In der englischen Fassung heißt es: »It all began with outbreaks of discontent in the villages.«)

Es gibt Sachgebiete, in denen Einwanderer aus Deutschland und Österreich ihre Fachsprache und ihre Sprüche mitgebracht haben, die ins Hebräische übergegangen sind, im Handwerk zunächst in der originaldeutschen Form, später in Übersetzung. Sicher hat auch das dem Deutschen verwandte Jiddisch Ähnlichkeiten zwischen den beiden Sprachen geschaffen.

Nachfragen Gibt es persönlichen Kontakt zu den Autoren, und wie verläuft er gegebenenfalls? Der persönliche Kontakt zu den Autoren gehört zu den schönsten Seiten meines Traumberufs. Für mich ist es ein wenig wie bei den Chassidim, die gern in der Nähe ihres Rabbis weilen, an seinen Lippen hängen, um ein weiteres Stückchen Weisheit und ein tieferes Verständnis der Texte zu ergattern. Deshalb gehe ich oft zu Lesungen – in Israel und, falls es sich ergibt, auch mal in Deutschland. Wenn dazu noch persönlichere Beziehungen entstehen, ist das natürlich wunderbar.

Beide Sprachen eignen sich für humoristische Wort-Neuschöpfungen.

Allgemein sind israelische Autoren sehr kooperativ und zugewandt, wenn es um die Übersetzung ihrer Bücher geht. Ein Deutsch schreibender Autor erreicht eine potenzielle Leserschaft von 100 Millionen, ein Englisch schreibender praktisch die halbe Welt. Doch nur gut acht Millionen Menschen lesen Hebräisch. Entsprechend wichtig und geachtet sind Übersetzungen.

Bei der Arbeit versuche ich weitgehend ohne Nachfragen beim Autor auszukommen. »Ihr sollt neue Bücher schreiben und den Frieden voranbringen, ich kann bloß übersetzen«, habe ich Amos Oz einmal gesagt, als er seine praktische Hilfe anbot. Manche Kollegen setzen sich mit dem Schriftsteller zusammen – auch hier gibt es mehrere Wege zum Ziel. Jedenfalls ist der Umstand, dass man nachfragen kann, die Kontaktdaten des Autors hat, sehr beruhigend.

Dazu ein aktuelles Beispiel. Am Ende des neuen Buchs von Yishai Sarid, Monster, gerät der Protagonist, ein junger israelischer Historiker und Auschwitz-Guide, mit einem deutschen Filmregisseur in Konflikt. Ein Faustschlag ins Gesicht des Deutschen wird erwähnt. Und dann kommt der Schlusssatz: »Se ma sche ha’iti chajav la’assot.« – »Das hatte ich tun müssen.«. Oder heißt es: »Das hätte ich tun müssen.«?

Sprachlich nur ein Unterschied von zwei Pünktchen auf einem a, aber ein gravierender Unterschied für den Regisseur. Mein Mann als unentbehrlicher Muttersprachler konnte die Frage ebenfalls nicht lösen. Also griff ich zum Telefon und fragte den Autor: »Yishai – hat er zugeschlagen oder nicht?« »Klar hat er«, lautete die präzise Antwort des Juristen.

Ruth Achlama, Jahrgang 1945, studierte in Heidelberg Jura, in Cincinnati Judaistik und in Jerusalem Bibliothekswissenschaften. Sie lebt seit 1974 in Israel und übersetzt seit mehr als 30 Jahren, darunter Werke von Amoz Oz, Abraham B. Jehoschua und Meir Shalev. 2015 wurde sie mit dem Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis ausgezeichnet. Anfang des Jahres erhielt sie das Bundesverdienstkreuz.

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