»Musstest du schon wieder über uns schreiben?« »Mama! Du blamierst mich!« »Als dein Ehemann verlange ich eine Änderung im letzten Satz! Sonst denken die Leute, ich bin tatsächlich die Kunstfigur von Seite 22!«
An dieser Stelle habe ich seit 15 Jahren Glossen geschrieben, viele von ihnen über meine kleine Familie. Irgendwann muss Schluss sein – jedenfalls mit den Texten, in denen mein Mann und mein Sohn vorkommen. Denn immer wollen sie beide alles lesen, bevor die Zeitung gedruckt ist, und die Autorisierungsdebatten werden von Jahr zu Jahr schwieriger. Dabei ist »Schalom Bajit«, der häusliche Frieden, doch das Wichtigste überhaupt.
Als ich 2009 anfing, Glossen zu verfassen, war mein Kind noch kein Jahr alt.
Als ich 2009 anfing, Glossen zu verfassen, war mein Kind noch kein Jahr alt. Ich habe über den Kaiserschnitt geschrieben, die Kita der jüdischen Gemeinde, über Tu Bischwat, Purim und Jom Haazmaut. Meine Leserinnen und Leser durften teilhaben an der schwierigen Entscheidung, die richtige Grundschule für den Sohn zu finden, und an den Vorbereitungen auf die Barmizwa.
Manches könnte ich heute noch schreiben. Wie in einer Glosse von 2014, in der es nicht um meine Familie ging: »Ich neige nicht zu Paranoia – jedenfalls nicht, wenn ich gut geschlafen habe. Seit ein paar Wochen schlafe ich schlecht. Es fing an mit dem Krieg in Gaza und wurde nicht besser mit Anti-Israel-Demos und neuen Molotowcocktails gegen Synagogen im alten Europa.«
Eines Tages werden wir alle sterben. An allen anderen Tagen nicht.
In dieser Zeit rief mich ein Journalistenkollege an: »Ein prominenter jüdischer Gast seiner Sendung habe kurzfristig abgesagt. Er brauche dringend Ersatz. Ob ich ein zweieinhalbminütiges Betroffenenstatement abgeben könne zum Thema: ›Heulen, Schlottern und Zähneklappern: Sitzen Deutschlands Juden auf gepackten Koffern?‹«
Ich habe abgelehnt und stattdessen auf Seite 22 kundgetan: »Erstens fürchte ich mich, wenn überhaupt, nur privat. Öffentlich singe ich das Eurovision-Lied von Ofra Haza: Chai, Chai, Chai! Zweitens habe ich keinen Grund, mich zu fürchten. In Sderot ist alles viel schlimmer. Von Gaza ganz zu schweigen. Und während ich vom Schreibtisch aus den Antisemitismus bekämpfe, scheint draußen die Sonne.«
»Während ich vom Schreibtisch aus den Antisemitismus bekämpfe, scheint draußen die Sonne.«
Ob ich das immer noch genauso formulieren würde? Einen Satz bestimmt, auch wenn es schon Herbst wird: Denn die Sonne scheint jetzt gerade, wenn auch nur kurz. In diesem Augenblick grübele ich nicht über Israel, die jüdische Welt und unsere Zukunft. Solche Momente habe ich versucht einzufangen, in Glossen über meine kleine private Welt, deren Überschneidung mit der jüdischen und nichtjüdischen Welt um mich herum nicht immer freiwillig ist.
Falls Sie mehr darüber lesen wollen (so viel Werbung muss sein): Gerade sind die besten Texte aus 15 Jahren als Buch erschienen. Der Schofar-Flashmob und andere schräge Töne. Auserwählte Glossen vom Rand der jüdischen Welt im Verlag Hentrich & Hentrich kommt passend zur Jahreszeit, denn im Monat Elul stimmt uns das Schofar auf Rosch Haschana und den »Tag des Gerichts« ein. Aber machen Sie sich deswegen keine Sorgen: Eines Tages werden wir alle sterben. An allen anderen Tagen nicht.
Am 22. September hat das Buch im Kurt-Mühlenhaupt-Museum in Berlin-Kreuzberg Premiere.