Die erste Frage vorweg: Lassen sich zehntausende Jahre Geschichte des Homo sapiens überhaupt in eine Graphic Novel von knapp 250 Seiten pressen? Der israelische Erfolgsautor Yuval Harari hat es probiert.
Oder anders ausgedrückt: Der belgische Comic-Künstler David Vandermeulen und der französische Illustrator Daniel Casanave haben den Bestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit des an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrenden Historikers in eine bunte Bilderstory umgewandelt. Harari selbst übernimmt dabei die Rolle eines Reiseführers, der die Leser durch diesen ambitionierten Parforceritt begleitet.
»Ich weiß, Historiker reden normalerweise nicht über Physik, Chemie oder Biologie«, betont das gezeichnete Alter Ego von Harari, der manchmal – ob unfreiwillig oder nicht – wie ein Märchenonkel daherkommt, wenn er mit einem Buch in der Hand auf dem Sessel sitzend etwas erklärt. »Sie sprechen eher über so Sachen wie die Französische Revolution. Eigentlich ist Menschheitsgeschichte aber die direkte Fortsetzung von Physik, Chemie und Biologie.«
Der Historiker Harari redet auch über Physik, Chemie und Biologie.
Und damit wird schon recht schnell deutlich, was der Autor mit seinem Buch bezweckt, nämlich auf die oftmals übersehenen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Disziplinen sowie historischen und evolutionären Entwicklungssträngen hinzuweisen. »Wir können Dinge wie die Französische Revolution nur verstehen, wenn wir wissen, wie die Menschen entstanden sind. Menschen sind Tiere, und alles, was in der Geschichte passiert ist, folgte den Gesetzen von Physik, Chemie und Biologie.«
NILPFERD Das alles klingt erst einmal staubtrocken. Doch beim Anschauen der Bilder muss man schon oftmals grinsen. So gibt es direkt im Anschluss an diese einleitenden Ausführungen von Harari das berühmte Bild der Mondlandung – nur stecken in den Raumanzügen diesmal ein Elefant und ein Nilpferd. In der Sprechblase neben einem der beiden Dickhäuter ist zu lesen: »Das ist ein kleiner Schritt für ein Nilpferd, aber ein riesiger Sprung für die Säugetierheit.«
Und damit wird auch die Stoßrichtung klar. »Dieses Buch wird erklären, warum die Sache nicht so ausging …« – weshalb also der Mensch das Rennen zum Mond machte und nicht etwa Meerschweinchen, Delfine oder Giraffen. Geradezu spielerisch skizziert Harari die sechs verschiedenen Menschenarten, die vor 50.000 Jahren und mehr so etwas wie die genetische Plattform des heutigen Homo Sapiens bildeten. »Evolution – die beste Show der Welt!« Aber warum?
Und genau jetzt zeigen sich die Potenziale einer Graphic Novel, um diese recht komplexen Prozesse so zu skizzieren, dass auch diejenigen, die bei den Themen Genetik und Evolutionsgeschichte im schulischen Biologieunterricht eher ein Fragezeichen auf der Stirn hatten, es verstehen können.
GEHIRN Ein großes Gehirn beispielsweise bringt Vorteile, aber zu groß darf es auch nicht sein, weil ein zu voluminöser Schädel sich nicht leicht herumschleppen lässt und noch mehr Energie gebraucht wird, um es in Gang zu halten. Hinzu kommen die Vorteile des aufrechten Gangs und die Fähigkeiten der frühen Menschenarten, mit ihren Händen sehr diffizile Aufgaben zu erledigen.
Das Fazit all dieser Entwicklungen: »Bis vor Kurzem waren wir unbedeutende Tiere irgendwo in der Mitte der Nahrungskette«, lässt Harari einen seiner Protagonisten, die Biologieprofessorin Saraswati, erzählen. »Dann sind wir plötzlich ganz nach oben gesprungen. Vielleicht zu plötzlich. Löwen, Adler und Haie haben Millionen Jahre gebraucht, um nach und nach die Spitze zu erreichen.«
Und Harari wäre nicht Harari, wenn er nicht zugleich seine Skepsis gegenüber all dem mitschwingen lassen würde. »Aber die Menschheit sprang so schnell an die Spitze, dass das Ökosystem keine Zeit hatte, sich anzupassen.« So manche Katastrophe der Vergangenheit lässt sich seiner Ansicht nach vor allem durch genau diese überhastete Entwicklung erklären.
Darüber hinaus verweist er auf die kognitiven Fähigkeiten, die dem Homo sapiens einen gewaltigen Vorteil in der Evolution verschaffen sollten und ihn zugleich von allen anderen Arten unterschieden – auch gegenüber solchen, die zur Kommunikation oder Zusammenarbeit in einer Gruppe fähig sind.
Vandermeulen arbeitet im Stil der École Marcinelle um den »Spirou«-Zeichner André Franquin.
»Wenn es ein Bienenschwarm mit einer neuen Gefahr oder einer neuen Chance zu tun bekommt, können die Bienen nicht einfach das Sozialsystem des Schwarms umkrempeln«, so der gezeichnete Harari gegenüber seiner Nichte Zoe. »Sie können zum Beispiel nicht einfach ihre Königin hinrichten und eine Republik ausrufen.« Spätestens jetzt dürfte jedem klar sein, warum der Historiker die naturwissenschaftlichen Disziplinen unbedingt in seine Betrachtungen über die Geschichte der Menschheit mit einbeziehen will.
UNIVERSALGELEHRTER Man muss kein Harari-Fan sein, um diese Graphic Novel mit Genuss und Erkenntnisgewinn lesen zu können. Dafür sorgt allein die Intention des Autors, über den Tellerrand zu blicken und sich als Universalgelehrter zu positionieren, der möglichst vielen Perspektiven zur Geltung verhelfen möchte, ohne dabei aber postmodern beliebig daherzukommen.
Liebhaber der gezeichneten Geschichten kommen hier ebenfalls auf ihre Kosten. Denn Vandermeulen, einer der beiden Macher, arbeitet ganz im Stil der »École Marcinelle«, also jener legendären Gruppe belgischer Comic-Künstler rund um André Franquin und Pierre Culliford, die vor allem in den 50er- und 60er-Jahren durch ihre dynamischen und humorvollen Strips wie Spirou stilprägend für ganze Generationen von Zeichnern wurden. Insofern darf man die Zusammenarbeit eines Historikers mit Illustratoren durchaus als Glücksgriff bezeichnen.
Yuval Noah Harari, David Vandermeulen und Daniel Casanave: »Sapiens – Der Aufstieg«. C.H. Beck, München 2020. 248 S., 25 €