Das Thema ist ein Tummelplatz für Kulturhistoriker: Die Vorstellung vom menschlichen Gedächtnis hat sich mit der Entwicklung der Kulturtechniken stets gewandelt. Galt das Gedächtnis jahrhundertelang als eine Art Buch, in das Erinnerungen geschrieben werden, stellte man es sich nach der Erfindung der Fotografie und des Films wie ein Archiv vor, in dem Lebensereignisse gespeichert werden – eben fotografisch genau. (Wenn auch bereits Sigmund Freud mit dieser Auffassung aufgeräumt hat, hielt sie sich doch noch lange Zeit im allgemeinen Bewusstsein.) Dann setzte sich die Auffassung durch, dass Erinnerungen auch gelöscht und neu überschrieben werden können, wie auf einem Videoband. Darauf beruhen Ansätze der Verhaltenstherapie. Leidet jemand beispielsweise unter einer Spinnenphobie, wird er in einer sicheren Umgebung so lange mit dem angstauslösenden Reiz – eben mit Spinnen – konfrontiert, bis die Angst allmählich nachlässt und der Patient fortan ohne übertriebene Furcht vor Spinnen durchs Leben gehen kann. Dieses Verfahren heißt Extinktion (Löschung).
Auffrischen Heute geht die Hirnforschung ferner davon aus, dass Erinnerungen überhaupt nichts ein für allemal Feststehendes sind, sondern vielmehr in einem dynamischen Prozess immer wieder hervorgeholt und neu abgespeichert werden. Ein Vorgang, der als Rekonsolidierung bezeichnet wird. Ein Team von Forschern der Universität von New York hat nun experimentell herausgefunden, dass innerhalb einer solchen Rekonsolidierungsphase ein Extinktions-Training erfolgreich sein kann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Bevor die Konfrontation in einer sicheren Umgebung erfolgt, sollte die ursprüngliche angstauslösende Erinnerung aufgefrischt werden. Dadurch öffnet sich, zweitens, ein Zeitfenster, in dem die derart stimulierte Erinnerung rekonsolidiert wird und für therapeutische Interventionen offen ist. Unter Federführung der israelischen Psychologin Daniela Schiller, die ihren Doktortitel an der Universität von Tel Aviv erworben hat, haben die Forscher ihre Ergebnisse Mitte Dezember in der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlicht.
In dem Experiment wurden den 65 Versuchsteilnehmern kleine farbige Quadrate auf einem Computerbildschirm gezeigt. Gleichzeitig wurden ihnen leichte Stromstöße versetzt. Nach einigen Durchgängen zeigten die Probanden schon beim bloßen Anblick eines farbigen Quadrats eine Angstreaktion, auch wenn der unsanfte Stromstoß ausblieb. Sie waren auf Angst konditioniert, gleich dem Pawlow’schen Hund, dem beim Läuten einer Glocke das Wasser im Maul zusammenläuft, weil er es mit der Erinnerung an Futter verbindet.
Am folgenden Tag durchliefen die Teilnehmer ein Extinktions-Training: Die Forscher zeigten ihnen so lange farbige Quadrate, bis ihr Körper keine Angstreaktion mehr zeigte. Einem Drittel der Probanden wurde allerdings zu Beginn des Trainings erneut ein Stromstoß versetzt, ein weiteres Drittel bekam diese »Auffrischung« sechs Stunden vor dem Extinktionstraining, das letzte Drittel startete ohne erneuten Stromstoß in das Training.
Nur bei der ersten Gruppe gelang es, die Angstreaktion zu löschen. Und dieses Ergebnis blieb stabil: In einem Folgeexperiment ein Jahr später bekam ein Teil der Probanden erneut das wohlbekannte farbige Quadrat vorgeführt. Nur bei denjenigen, die ihr Extinktionstraining seinerzeit innerhalb von sechs Stunden nach der Erinnerungs-Auffrischung absolviert hatten, zeigte sich keinerlei meßbare Angstreaktion.
Daniela Schiller erklärt dies so: »Wenn Erinnerungen aufgefrischt werden, öffnet sich ein Zeitfenster von etwa sechs Stunden, in dem diese Erinnerungen bearbeitet werden können.« Gleichzeitig betont sie: »Wir ändern nicht die Erinnerung, wir ändern lediglich die emotionale Reaktion darauf.« Auch wenn Schiller hofft, dass ihre Forschungsergebnisse irgendwann einmal zu wirksameren Therapien für Traumapatienten führen, gibt sie zu: »Wir haben eine angstbesetzte Erinnerung in einer Laborsituation künstlich geschaffen. Überdies eine sehr einfache und eindimensionale Erinnerung: ein visueller Reiz, der mit einem Stromstoß gekoppelt wurde.« Wie sich die gewonnenen Erkenntnisse bei komplexeren Erinnerungen umsetzen lassen, ist noch ungeklärt. Ebenso, wie im Falle schwerer Tramata in einem therapeutischen Kontext der »ursprüngliche Angstauslöser« reproduziert werden soll. Ein Kriegserlebnis oder eine Vergewaltigung lässt sich schließlich nicht einfach wiederholen wie ein leichter Stromstoß.
Dennoch ist ein weiterer Beweis erbracht, dass das Gedächtnis formbar ist – und dass es auch hierbei, wie so oft im Leben, auf den richtigen Zeitpunkt ankommt.