Bereits 2020 begab sich der Autor Anatol Regnier mit seinem Buch Jeder schreibt für sich allein auf eine Reise ins Leben von Schriftstellern im Nationalsozialismus. Unter demselben Titel begleitet ihn nun der Regisseur Dominik Graf beim Gang in die Archive. Herausgekramt wird die alte Leier der »inneren Emigration«; versehen mit einem neuen Sound der Ambivalenz. Doch wie neu ist die Ambivalenz in NS-Biografien?
Der Erzähltradition eines Marcel Proust verschrieben, entzündet sich der gut dreistündige Tunnellauf durch die Katakomben des kulturellen Gedächtnisses Deutschlands an einem Detail: Beiläufig begegnet uns ein herumliegender Schuh. Geschichte? In Deutschland an jeder Ecke zu finden. Das angefachte Feuer der Erinnerung führt uns durch ein langatmiges Vorwort, hinein in die kalten Keller des Literaturarchivs Marbach – dem zentralen Handlungsort des Films. Denn Jeder schreibt für sich allein bleibt der literarischen Form seiner Vorlage über weite Strecken treu: ein bebildertes Hörspiel, angeleitet von Blicken und Worten des Autors Anatol Regnier, oft in kritischem Ton.
ARCHIVFILM Kritisch, dieses Attribut möchte man auch Grafs Archivfilm anfangs geben. In wild arrangierten Bild-Text-Collagen entsteht ein suggestiver Sog, dem man im ersten Drittel noch zugesteht, dass er so etwas wie ein Zeitgefühl für die Wirren der Jahre vor und nach 1933 ausdrückt, ohne in die Falle nachträglicher Verklärung zu tappen. Fragmentarisch und assoziativ, nahbar und doch nicht affirmativ soll der Blick sein. Ein Blick auf die widersprüchlich zwischen Täterschaft und stillem Widerstand oszillierenden Biografien solcher Autoren wie Erich Kästner, Hans Fallada oder Ina Seidel.
Die begrüßenswerte Suche nach Ambivalenz entpuppt sich als Wunsch, das Erbe der noch immer verehrten Götter des deutschen Kulturolymps vor Lästerern in der Gegenwart zu retten.
Streckenweise gelingt das, wie eine Passage über den Lyriker Gottfried Benn beweist. Hier verschmelzen Text und Bild für einige Augenblicke zu einer eigenen, filmischen Bewegung. Film als Form der Vermittlung einer Geschichte, die in Trümmern liegt – es scheint zu funktionieren und erinnert dabei nicht nur an den Experimentalfilmer Jonas Mekas und sein Werk Reminiscences of a Journey to Lithuania, sondern auch an Dominik Grafs vorherige Filme.
WÜHLTISCH Unkritisch wird es jedoch, wenn sich der Bildersog zum Wühltisch der Geschichte wandelt: Gerade die in der Benn-Passage gezeigten, dick patinierten Archivbilder und ihre grellen Blau- und Gelbtöne lassen erahnen, dass es sich um Privatfilme aus der Nazi-Zeit handelt.
Dass sie hier zum Körper eines nostalgisch hochgejazzten Geschichtsbildes werden, scheint ebenso wenig zu stören, wie die Quelle der Privatfilme: Sie stammen aus der Sammlung von Karl Höffkes, rechter Geschichtsrevisionist und zuverlässiger Lieferant, wenn es darum geht, die große Nachfrage am verklärenden Genre »Alltag unterm Hakenkreuz« zu stillen.
Diese Gelassenheit im Umgang mit dem Nazi-Erbe spiegelt sich auch inhaltlich wider. Bei allen Versuchen der Einordnung und dem Aufzeigen von Kontinuitäten der Nazi-Gräuel bis hin zu Gudrun Ensslin, scheitert Dominik Graf am eigenen Anspruch. Drei Stunden lang geht er den biografischen Widersprüchen von größtenteils kollaborierenden deutschen Schriftstellern nach, als wären sie im post-nazistischen Deutschland einhellig geächtet worden.
STROHMANN Dass aber die zur Schau getragene Indifferenz der »inneren Emigration« und ihre Verklärung als ambivalente Vertreter eines »anderen Deutschland« dem entlastenden Neuanstrich von Nachkriegsdeutschland diente, geht unter. Wichtiger scheint das erneute Stopfen dieses Strohmanns.
Die begrüßenswerte Suche nach Ambivalenz entpuppt sich schließlich als Wunsch, das Erbe der noch immer verehrten Götter des deutschen Kulturolymps vor Lästerern in der Gegenwart zu retten. Dafür wird ein weiterer Strohmann gestopft: In einem Lamento zum Schluss gerät die Gegenwart selbst als »totalitär«. Ambivalenz aushalten und Widersprüche zulassen? Anscheinend Qualitäten der Vergangenheit.
Der Film selbst, ein Aufbäumen gegen die repressive Gegenwart? Wie falsch diese Annahme ist, zeigt die Existenz des Films in seiner ohnehin fragwürdigen Länge – eine unvergleichliche Großzügigkeit, die rbb und Arte diesem verzerrenden Geschichtsbild zugestehen. Klar ist, dass sich in Ambivalenz hüllende Aussagen wie »Nicht alle Antisemiten waren Nazis, und nicht alle Nazis waren Antisemiten« genau eines signalisieren: Nicht alle Deutschen waren Nazis, nicht alle tragen Schuld. Besonders neu ist das nicht, aber noch immer entlastend.
Der Film läuft ab dem 24. August im Kino.