Literatur

»Die Abwehr war vehement«

Thomas Sparr ist Literaturwissenschaftler und Lektor im Suhrkamp Verlag. Foto: Juergen Bauer

Literatur

»Die Abwehr war vehement«

Thomas Sparr über die Veröffentlichungsgeschichte und Rezeption des Tagebuchs von Anne Frank

von Ayala Goldmann  19.12.2023 12:16 Uhr

Herr Sparr, es mangelt nicht an Büchern und Filmen über das Leben von Anne Frank: Biografien, Erinnerungen ihrer Freundinnen, die Geschichten der Helfer, einen möglichen Verrat. Warum haben Sie sich entschlossen, die »Biografie« ihres Tagebuchs zu veröffentlichen?
Das war ein Vorschlag des Anne-Frank-Fonds. Ich habe zuerst gezögert.

Warum?
Weil ich erst dachte, über das Tagebuch von Anne Frank sei schon alles gesagt. Aber dann habe ich gesehen, dass es kein einziges Buch über die Geschichte der Veröffentlichung und die Rezeption des Tagebuchs gibt.

Ihr Buch schließt also eine Lücke – und gibt spannende Einblicke in die Verlagswelt. Wie in eine Absage aus dem Jahr 1949: »Es ist mir sehr, sehr peinlich, aber das (…) Tagebuch des deutsch-jüdischen Mädchens erscheint mir für den Kiepenheuer Verlag, der von jeher das Bestreben hatte, nur Bücher von hohem literarischen Niveau zu bringen, ungeeignet.« Sie sprechen von ökonomischen Gründen, kontingentiertem Papier oder inhaltlichen Be­denken. War es nicht eher, wie man es heute nennen würde, fehlende Empathie?
Vielleicht kam alles zusammen. Es ist ein merkwürdiger Hochmut am Werk bei dieser Absage. Die Abwehr war vor der Veröffentlichung überhaupt – und in anderer Form auch danach – vehement. Das Tagebuch der Anne Frank ist beides: ein zeitgeschichtliches Dokument und ein literarisches Werk. Es war eines der frühen Dokumente über die Verfolgung des europäischen Judentums, lange bevor wir einen Begriff wie Schoa oder Holocaust hatten. Die literarischen Qualitäten hat man erst später erkannt, auch den Anteil an Fiktion, an überschießender Fantasie und an literarischer Freiheit. Anne Frank ist eine junge, ganz entschlossene Schriftstellerin, mit der größten zeitgeschichtlichen Bürde, die jemand im 20. Jahrhundert zu tragen hat.

In Deutschland erschien das Tagebuch 1950, in den Niederlanden schon 1947. Im selben Jahr wurde Wolfgang Borcherts Theaterstück »Draußen vor der Tür« in Hamburg inszeniert. Warum ziehen Sie diese Parallele?
Weil es so interessant ist, in welchem Umfeld man Anne Franks Tagebuch wahrgenommen hat. Das war dieser kleine Kreis von jüngeren, entschlossenen Redakteuren in Hamburg bei der »Akademischen Rundschau«. Zu nennen ist hier Karl Ludwig Schneider, ein nichtjüdischer Deutscher, der offen gegen den Nationalsozialismus opponiert hatte und dafür verhaftet wurde. Er wollte das Tagebuch der Anne Frank und Borcherts Theaterstück bekannt machen. Der »Erfinder« des Titels »Draußen vor der Tür« war Ernst Schnabel, der mit »Spur eines Kindes« das bedeutendste Buch über Anne Franks Tagebuch verfasst hat.

Sie nennen mehrere Angehörige des Jahrgangs 1929, die im selben Jahr geboren wurden wie Anne Frank. Dazu gehört aber auch die Schoa-Überlebende Cordelia Edvardson. Sie schrieb über das Tagebuch in ihrer Autobiografie, es biete nichtjüdischen Deutschen »Katharsis zu einem viel zu billigen Preis«. Sind Sie bei anderen Juden – Sie erwähnen die Schriftsteller Cynthia Ozick und Meyer Levin – ebenfalls auf eine Kritik dieser »Katharsis« gestoßen?
Ja, es gibt eine sehr skeptische jüdische Rezeption. Es erscheint mir aber zu eng, Anne Franks Tagebuch als ein Dokument allein der jüdischen Welt zu betrachten, wie es Meyer Levin tat, der gern Autor eines alleingültigen Theaterstücks über Anne Frank geworden wäre. Er machte Annes Vater große Vorwürfe, weil der das Tagebuch als universelle Botschaft betrachtete. Es gibt auch eine freie, fantasievolle und skeptische jüdische Rezeption wie bei Philip Roth. Er lässt Anne Frank überleben und von den USA aus die Rezeption ihres eigenen Tagebuchs betrachten. Sie schleudert uns entgegen: »Lasst mich doch mit eurer Rührung allein.« Dafür braucht man die Freiheit eines Philip Roth oder des Filmemachers Ari Folman, der die Tagebuchadressatin Kitty als Figur übers gegenwärtige Amsterdam schweben lässt.

Sie wiederum haben ein Kapitel der »vergessenen Margot« gewidmet, die im Tagebuch ihrer jüngeren Schwester Anne oft als brav und langweilig geschildert wird. Warum war Ihnen das wichtig?
Weil Margot tatsächlich vergessen ist und vermutlich gar nicht langweilig war. Wir wissen, dass beide Schwestern in der Zeit der Konzentrationslager sehr eng miteinander verbunden waren. Wir wissen aber nicht, ob Margot, wie sie uns im Tagebuch der Anne Frank entgegentritt, nicht doch zu einem Gutteil eine Kunstfigur und ein Geschöpf ihrer jüngeren Schwester ist.

Überwältigenden Erfolg hatte das Tagebuch unter anderem in Japan. Woran liegt das?
Vor allem an der Freiheit des Mädchens, über ihren Körper zu schreiben, über die erwachende Sexualität. Dadurch wurde Anne Frank in Japan zu einem Symbol für Freizügigkeit. Später hat man sich mit der Verstrickung des eigenen Landes in den Nationalsozialismus auseinandergesetzt.

Wurde es auch ins Arabische übersetzt?
Ja, das erste Mal 1964 in Israel, in einer Übersetzung aus dem Hebräischen. 2019 wurde es in Kuwait aus dem Russischen ins Arabische übersetzt unter dem Titel: »Anne Frank. Tagebuch eines Mädchens unter Besatzung«. Das sogenannte Aladin-Projekt bemüht sich heute um die Verbreitung des Tagebuchs in der arabischen Welt, um auf das Schicksal des jüdischen Volkes von 1933 bis 1945 hinzuweisen. Eine eigene Veranstaltung soll 2024 der Rezeption des Tagebuchs auf Arabisch und Hebräisch wie auf Jiddisch nachgehen. Im Buch erzähle ich, wie Otto Frank sich 1975 mit einem in Israel inhaftierten Palästinenser über das Tagebuch austauscht.

Wie groß ist denn das Interesse am Tagebuch in der arabischen Welt?
Ich habe keine genauen Zahlen und gehe von einer niedrigen Auflage und einer sehr verhaltenen Rezeption aus. Das macht die Initiative der Verbreitung des Tagebuchs in arabischen Ländern umso wichtiger.

Ich habe Anne Franks Tagebuch in den 80er-Jahren in der Schule gelesen. Wird es auch in Zukunft zum »Kanon« gehören?
Wir erleben gerade einen fundamentalen Generationswechsel. 2022 ist die letzte Freundin von Anne Frank gestorben, Hannah Goslar. Gleichzeitig könnte Anne Frank heute noch eine Zeitgenossin von uns sein, eine 94-jährige Dame. Es wird andere Medien geben, wie Netflix, TikTok, die das Buch und seine Geschichte verbreiten. In welchem Medium auch immer, das Tagebuch der Anne Frank gehört zur Weltliteratur. Solange es Menschen und Bücher gibt, werden sie das Tagebuch der Anne Frank lesen.

Mit dem Editor-at-Large des Suhrkamp Verlags sprach Ayala Goldmann.
Thomas Sparr: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod. Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank«. S. Fischer, Frankfurt 2023, 336 S., 25 €

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