Roman

Dichtung und Wahrheit

Stoff für viele Romane: der Schriftsteller Eshkol Nevo Foto: Getty Images

Sein lange verschollener Freund Chagai Karmeli hat gern Schach gegen sich selbst gespielt. Das könnte für den israelischen Autor Eshkol Nevo das Muster für die Anlage seines Romans Die Wahrheit ist gewesen sein. Und die Geburt eines neuen Genres: des Interview-Romans.

Ja, Eshkol Nevo bezeichnet das Interview mit sich selbst als Roman. Natürlich werden die Fragen im Buch ano­nym aus dem Netz gestellt – so wird es plausibel. Das Netz aber ist er selbst. Also ist das Buch als Roman zu lesen, als eine fiktionale Lebensbeichte mit sich selbst als Beichtvater oder als der von Fragen an sich selbst ausgelöste Bewusstseinsstrom.

KREBS Der Roman handelt von Levy Eshkol in Form von einzelnen Geschichten, Episoden, Aperçus, Antworten eben auf Fragen, die sich ein Mann in der Mitte seines Lebens stellt. Fragen über seine Arbeit als Schriftsteller, über die Liebe zu seiner Frau Dikla, Fragen zu seiner bewegenden Freundschaft mit dem an Bauchspeicheldrüsenkrebs dahinsiechenden Ari.

Dazwischen immer wieder Fragen zu Israel, zu den Besetzungen, zur Armee. Immer gehen die Fragen ans Eingemachte einer an sich selbst zweifelnden Existenz: »Glauben Sie an Gott?« Seine Antwort ist kurz und bündig: »Nein, aber ich neige dazu, an Karma zu glauben: Tust du etwas Schlechtes, hat das Auswirkungen, und tust du etwas Gutes, kehrt es zu dir zurück …«

POLITIK Oft beginnen die Antworten ausweichend, holen aus zu einer Geschichte, die manchmal wie eine Metapher klingt, oft überraschende Pointen enthält, bei aller aus der »Condition humaine« erwachsenden Melancholie Ironie und Witz entfaltet. Wenn er sich die Frage stellt, ob er glaube, als Schriftsteller die Verpflichtung zu haben, sich politisch zu engagieren, fängt er ausweichend an: »Ich treffe Michael Orbach, einen amerikanischen Bekannten. Er ist fast zwanzig Jahre älter als ich, hat aber weniger weiße Haare. Und sein Schritt, als wir zusammen auf der Strandpromenade Richtung Jaffa marschieren, ist auch leichter und federnder als meiner.«

Die Tochter des Autors zog wütend aus, nachdem sie in einem seiner Romane vorkam.

Nach längerer, freundschaftlich geführter Unterhaltung am Strand lässt Eshkol Nevo seinen Gesprächspartner das Fazit ziehen: »Denk darüber nach, was ich in Sachen Politik gesagt habe: Wenn Leute wie du weiter unbeteiligt zuschauen, werdet ihr bald keinen Staat mehr haben, um unbeteiligt zuzuschauen.« Auf welch schön erzählten Umwegen kommt dieser begnadete Autor zum Ziel!

Auf die Frage »Was halten Sie von der Zweistaatenlösung?« entgegnet er: »Auf diese Frage möchte ich nicht antworten.« Und er begründet das auch. Die Frage nach seinem Großvater beantwortet er knapp: »Ich kannte ihn nicht, er ist vor meiner Geburt gestorben.« Aber er korrigiert den herumratenden Fragesteller mehrmals, bis er die richtige Antwort verrät: »Mein Großvater Levi Eshkol war von 1963 bis zu seinem Tod 1969 der dritte Ministerpräsident Israels.«

Dessen 1971 geborener Enkel, der auf der Couch des Analytikers liegt, der er selbst ist, leidet besonders unter dem Auszug seiner ältesten Tochter Shira, die mit 16 in ein Internat zog, nachdem sie festgestellt hatte, dass ihr Vater eine Episode aus ihrem Leben – wenn auch gut anonymisiert – in einem Roman verwendet hat. Sie wollte nicht der Steinbruch sein, aus dem sich ihr Vater das Material für seine Literatur stiehlt.

WAHRHEIT Es geht um Lügen, um Lebenslügen und um die Wahrheit, die sich in Eshkol Nevos Antworten auf die Fragen offenbart, die er an sich selbst richtet. Nach einer Lesung in Deutschland überreicht ihm der Vorsitzende einer örtlichen jüdischen Gemeinde das dicke Buch eines Überlebenden. Bei seiner Abreise passt es nicht in seinen Koffer – es wird ihm zur nächsten Station auf seiner Lesereise nachgesandt, auch dort lässt er es bei seiner Abreise liegen, versteckt es sogar – die Sache wiederholt sich, und auch vor dem Rückflug nach Israel will er es wegen der Kosten für das Übergewicht nicht mitnehmen. Zurück in Israel wird ihm das Buch mit einem bösen Kommentar nachgesandt. Die Geschichte erzählt er auf die Frage, warum er nie über den Holocaust schreibe.

Eshkol Nevo erzählt so viele Geschichten, dass sie Stoff für viele Romane ergäben. Man wünscht sich, dass er diese schreibt oder auch andere, denn sein Reservoir scheint unerschöpflich.

Auf die Frage »Wie lange haben Sie für Ihr letztes Buch gebraucht?« gibt er gleich zwei Antworten: »Netto – drei Monate. Brutto – drei Jahre.« Aber nicht nur die Geschichten faszinieren. Wie er sie erzählt – von Markus Lemke in treffendes Deutsch übersetzt –, kann süchtig machen, obwohl die Wahrheit nicht immer leicht zu ertragen ist.

Als begeisterter Leser wünscht man sich, dass er uns noch viele Monate und Jahre schenkt, und gönnt ihm, dass das, was zwischen Brutto und Netto anfällt, ihn gut leben lässt! Der Roman Die Wahrheit ist wirkt wie eine Einladung an seine Leser, mit den eigenen Lebenslügen aufzuräumen, sich Fragen zu stellen und sich an den Antworten zu bereichern, die Eshkol Nevo ihnen serviert.

Eshkol Nevo: »Die Wahrheit ist«. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. dtv, München 2020, 430 S., 22 €

Veranstaltungen

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 21. November bis zum 28. November

 21.11.2024

Liedermacher

Wolf Biermann: Ein gutes Lied ist zeitlos gut

Er irre sich zuweilen, gehöre habe nicht zu den »irrsten Irrern«, sagt der Liedermacher

 21.11.2024

Nachruf

Meister des Figurativen

Mit Frank Auerbach hat die Welt einen der bedeutendsten Künstler der Nachkriegsmoderne verloren

von Sebastian C. Strenger  21.11.2024

Berlin

Ausstellung zu Nan Goldin: Gaza-Haltung sorgt für Streit

Eine Ausstellung würdigt das Lebenswerk der Künstlerin. Vor der Eröffnung entbrennt eine Debatte

von Sabrina Szameitat  21.11.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 21.11.2024

Fachtagung

»Kulturelle Intifada«

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische Künstler sehr schwierig geworden. Damit beschäftigte sich jetzt eine Tagung

von Leticia Witte  20.11.2024

Meinung

Maria und Jesus waren keine Palästinenser. Sie waren Juden

Gegen den Netflix-Spielfilm »Mary« läuft eine neue Boykottkampagne

von Jacques Abramowicz  20.11.2024

Berlin

Von Herzl bis heute

Drei Tage lang erkundet eine Tagung, wie der Zionismus entstand und was er für die jüdische Gemeinschaft weltweit bedeutet

 20.11.2024

Antisemitismus

»Verschobener Diskurs«

Nina Keller-Kemmerer über den Umgang der Justiz mit Judenhass und die Bundestagsresolution

von Ayala Goldmann  20.11.2024