Ein Mann steht am offenen Fenster und schaut hinaus. Er macht sich einen Spaß: Warum seid ihr nicht auf dem Marktplatz, ruft er den wenigen Passanten zu, da tanzt ein Hering auf einem Drahtseil! Daraufhin strömen etliche Menschen in die Stadt. Der Mann zieht seinen Mantel an. Wo willst du hin, fragt seine Frau. Zum Marktplatz, vielleicht tanzt dort wirklich ein Hering auf einem Seil!
Schriftsteller sind Erfinder. Sie erfinden Welten, Charaktere, Schicksale und magische Orte. Ist nicht in Verona der Balkon zu besichtigen, unter dem einst Romeo stand, um seiner Julia Liebesworte zuzuflüstern? Und das, obwohl wir wissen, dass es die beiden nie gab, dass sie ein Produkt der Fantasie William Shakespeares sind? Nicht selten sind die erfundenen Figuren für uns Leser wie Menschen aus Fleisch und Blut.
autoren Sorgen wir uns nicht um Anna Karenina, als wäre sie eine Freundin? Wollen wir nicht Willy Loman zurufen: Lass uns reden! Ist Oliver Twist nicht das Kind, das wir an die Hand nehmen möchten, um es aus dem Elend zu führen? Immer wenn erfundene Figuren zu Weggefährten werden, wenn wir uns wiederfinden in den Geschichten, haben Autoren vieles richtig gemacht. Was aber, wenn es diese Autoren gar nicht gibt? Wenn auch sie erfunden sind ...
Der »Vorwärts« schreibt am 8. November 1923 in seinem Leitartikel: Die antisemitische Saat ist aufgegangen. Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden. Eine Schmach für ein Volk, das sich zu den zivilisierten zählt ...
In der Tat kommt es 1923 im Berliner Scheunenviertel zu massiven Ausschreitungen gegen Juden, und für viele Intellektuelle, nicht zuletzt den Dichter Jakob Wassermann, ist es wie eine Vorankündigung der Ereignisse, die noch schrecklicher werden würden. Dr. phil. Leonard Weinheber, bisher mäßig bekannt als Gerichtsreporter, Literaturkritiker und Essayist, beginnt einige Jahre später mit den Aufzeichnungen zu Die blutende Stadt, seinem ersten Roman – die Geschichte des jungen Anwalts Dr. Abraham Friedländer, der ein Opfer der antisemitischen Umtriebe verteidigt und schließlich selbst zum Opfer wird.
sehnsüchte Bereits der Beginn des Romans zeigt eine ungeschönte Welt: bitterste Not überall! Jüdisches Proletariat! Verhärmte Frauen boten Brennholz, fauliges Obst oder sich selbst feil, Männer im abgerissenen Kaftan liefen einem hinterdrein, um eine fadenscheinige Hose zu preisen, zerlumpte Kinder mit Schläfenlocken reckten ihre schmutzigen Händchen und bettelten ungeniert um ein paar Groschen. An einer Ecke verkaufte eine Alte gebrauchte Gebisse! Das also war das Ziel der jüdischen Sehnsüchte. Diese erbärmlichen Kreaturen hatten lediglich das Ghetto gewechselt.
Obwohl Weinhebers Manuskript von den einschlägigen Verlagen wie Fischer, Ullstein und Mosse gelobt wird, wagt es Ende 1932 kein Verleger mehr, das Buch eines jüdischen Autors herauszugeben, einem, der mutig und kritisch mit dem Reich und seiner diskriminierenden Rechtsprechung umgeht. Außerdem hat Weinheber seinen Roman als »Großstadtroman« betitelt, und diesen gibt es bereits – ebenfalls von einem jüdischen Autor: Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin.
Die Geschichte mit und von Leonard Weinheber ist Fiktion. Der verschollene Dichter, von dem nur ein Romanfragment bleibt, ist erfunden. Ein Golem, ein Homunkulus. Und doch wirkt er so echt und nah, dass viele meiner Leser nach ihm und seinem Roman fragen. Ich glaube, dass es ihn gibt, rief mir eine Frau anlässlich einer Lesung aus dem Publikum zu. Und schließlich frage ich mich selbst, so wie der Mann mit dem Hering: Woher weiß ich, dass es ihn nicht gibt?
dokumentarfilm Das Ganze begann mit dem Dokumentarfilm Granach der Jüngere. Wir saßen vor einer Bar in Yafo, und Gad Granach berichtete meiner Frau in die Kamera, wie er an einem stürmischen Tag im Jahr 1936 mit dem Schiff von Triest kommend, mit Hunderten jüdischer Menschen schon aus der Ferne die Küste Palästinas erblickte. Man stand an der Reling, sah zum Hafen und hinunter auf die Barkassen, die Passagiere und Koffer an Land brachten.
Am Kai standen Kamele, Eselskarren und klapprige Lastwagen, die Menschen und Gepäck weiter transportierten. Gad sah britisches Militär, aber auch jüdische Hilfspolizisten, sogenannte »gaffirim«, die, wie er lakonisch bemerkte, »nun auf der richtigen Seite des Gewehrs standen«. Daneben Berge von Koffern.
Was passierte mit Gepäckstücken, die keiner abgeholt hat? Gad schaute mich an: Wieso sollte jemand seinen Koffer nicht abholen? Schließlich hatten die Menschen ihr ganzes Leben darin, das wenige, das ihnen geblieben war. Jahre später erinnerte ich mich an dieses Gespräch, und es war der Beginn einer Gedankenreise, die mich zu Leonard Weinheber führen sollte – dem unbekannten Dichter, der auf seiner Schiffspassage nach Palästina spurlos verschwand und von dem lediglich das Fragment eines Romanmanuskripts geblieben war: Die blutende Stadt. Das Buch müsste noch geschrieben werden, dann wäre Leonard Weinheber endgültig zum Leben erwacht.
Der Autor ist Schriftsteller, Regisseur und Filmproduzent. Die Bücher seiner »Teilacher«-Trilogie waren allesamt Bestseller. Zuletzt erschien sein Roman »Weinhebers Koffer« (dtv).