Redezeit

»Deutsche verbinden mit Freiheit Stress«

Götz Aly Foto: Susanne Schleyer

Herr Aly, der S. Fischer Verlag bewirbt Ihr neues Buch mit dem Versprechen, dass man nach der Lektüre die Schoa als Teil der deutschen Geschichte endlich verstehen werde. Mit Verlaub, ist das nicht schon längst der Fall?
Keineswegs. Ich habe den Eindruck, dass zumindest die deutsche Holocaustforschung nichts erklärt, sondern vieles vernebelt.

Inwiefern?
In den einschlägigen Arbeiten wird der Antisemitismus in aller Regel aus dem Antisemitismus erklärt. Es wird also gesagt, dass es den Judenhass in Deutschland immer schon gegeben habe, Stichwort Berliner Antisemitismusstreit 1879/80, Stichwort Judenzählung im Ersten Weltkrieg – und schwups, sind wir schon in Auschwitz. Solche Vereinfachungen sind fatal. Sie suggerieren, dass wir die Ursachen und Voraussetzungen der NS-Massenmorde auf Distanz halten können, weil sie nichts mit uns Menschen von heute zu tun hätten.

Zu welcher Erklärung gelangen Sie bezüglich der – wie Sie es zu Beginn Ihres Buches nennen – Frage aller Fragen, warum Deutsche sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder ermordeten, bloß, weil sie Juden waren?
Neben dem spezifisch deutschen, verkappt-verschämten Antisemitismus war die extrem starke soziale Differenz zwischen Juden und Christen in Deutschland ausschlaggebend. Nachdem deutsche Juden 1812 die Rechtssicherheit und Gewerbefreiheit erlangt hatten, machten sie durchschnittlich zehn Mal häufiger Abitur als deutsche Christen, studierten zehn Mal so häufig, legten die besseren Examina ab und bewegten sich in den ihnen zugänglichen Berufen höchst erfolgreich. Vor dem Ersten Weltkrieg etwa verdienten Juden rund fünf Mal so viel wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft und zahlten zum Beispiel in Frankfurt am Main acht Mal so viel Steuern wie ein Katholik. Die Mehrheit der Deutschen reagierte auf diese Ungleichheit mit Neid, Missgunst und später dann mit boshafter Schadenfreude.

Sie begreifen den deutschen Antisemitismus als Aufstand abgehängter Deutscher gegen tüchtige, bildungshungrige Juden?
Absolut. Die Juden haben sich extrem schnell an die Zwänge und Notwendigkeiten der Moderne assimiliert. Die trägen Deutschen dagegen blieben, auch wegen der damaligen miserablen christlichen Elementarbildung, meilenweit hinter denen in die Moderne stürmenden Juden zurück. Die fürchterlichen Folgen des Neides vieler Deutscher auf die Juden und der sehr deutschen Sehnsucht nach Gleichheit sind bekannt.

Inwieweit spiegeln sich die Motive des Neides und der Missgunst in den zeitgenössischen Quellen?
Bei einem ernsthaften Studium der Quellen kann ein Historiker zu keinem anderen Schluss kommen, als dass der Neid auf die Juden zeit- und milieuübergreifend eine zentrale Rolle spielte. Der Oberantisemit Adolf Stoecker beispielsweise schrieb im 19. Jahrhundert sinngemäß: Wir fordern mehr Gleichheit! Die Juden dürfen nicht mehr so häufig Abitur machen! Sie dürfen nicht häufiger Rechtsanwälte werden als »wir«! Christliche Unternehmer müssen vor jüdischer Konkurrenz geschützt werden! Genau diese Haltung der Deutschen war dann später auch das Grundelement des nationalsozialistischen Antisemitismus. Viele Deutsche sagten sich: Gut, dass die Juden endlich einen auf den Deckel kriegen! Gut, dass sie aus den Stellen fliegen, die sie sich erschlichen haben! Gut, dass sich für »uns« neue Chancen öffnen!

Anders als viele deutsche Historiker beziehen Sie Ihre eigene Familiengeschichte in Ihre Analyse der Schoa mit ein. Warum?
Wenn wir von den Rassenantisemiten im 19. und 20. Jahrhundert reden, dann tun wir oft so, als handelte es sich geradezu um Außerirdische. Der Antisemitismus aber war eine sehr verbreitete Erscheinung in der deutschen Gesellschaft. Mein Großvater bildet in dieser Hinsicht leider keine Ausnahme. Weil er arbeitslos wurde und den Versprechungen der Nazis glaubte, trat er 1926 der NSDAP bei. Er war ein herzensguter Mensch, gleichzeitig aber kaufte er ganz bewusst nicht in jüdischen Geschäften ein …

… ein typischer Mitläufer …
Ja, wie die meisten beteiligte auch er sich nicht an Mord und Totschlag. Gleichwohl übertrug er seine Missgunst und seinen kleinen Judenhass auf die Vollstreckungsbehörden des Staates – und machte sich somit schuldig. Ich spreche in meinem Buch an mehreren Stellen von meinen Vorfahren und möchte damit erreichen, dass meine deutschen Leser ebenfalls über ihre Vorfahren nachdenken und sich nach deren Verhaltensweisen fragen.

»Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen« – mit diesen pessimistischen Worten endet Ihr Buch. Welche Rückschlüsse für die Gegenwart ziehen Sie aus Ihrer Untersuchung?
Man muss sich klarmachen, dass das Böse nicht einfach aus dem Bösen entsteht. Wenn wir uns heute einreden, dass ein einfältiger, gestiefelter Rechtsradikaler, der zu Hause »Mein Kampf« liest, der Prototyp des Hitler-Schergen sei, dann liegen wir vollständig falsch. Stattdessen müssen wir uns mit den spannungsreichen Vorgängen wie Bildungsdifferenz zwischen Großgruppen und den möglicherweise daraus entstehenden Konfliktpotenzialen auseinandersetzen. Man muss die Gründe studieren, die für das Entstehen des Bösen verantwortlich waren: Neid, Missgunst und nicht zuletzt auch die Ablehnung der Ungleichheit und des Fremden gehören jedenfalls dazu.

Sehen Sie Parallelen zwischen jenen Deutschen, die die Juden aufgrund ihrer Andersseins fürchteten, ablehnten, somit Hitlers Erfolg ermöglichten, und jenen xenophoben Deutschen, die heute Angst vor einer muslimischen Übervölkerung der Bundesrepublik haben?
Zuallererst glaube ich, dass die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland infolge langsamer, jedoch stetig verbesserter Einsicht in die Schreckenskapitel der Vergangenheit deutlich abgenommen hat. Das eigentliche Problem liegt darin, dass die Deutschen mit dem Wort Freiheit immer noch Stress, Unbequemlichkeit und Unsicherheit verbinden, während sie das Wort Gleichheit immer als materielle Gerechtigkeit, als Ausdruck von gemütlicher Geborgenheit verstehen. Ich fürchte, erst, wenn es zu schweren sozialen Krisen, zu starkem wirtschaftlichem Rückgang und zu schwierigen politischen Fragen gekommen ist, werden wir wissen, ob die Deutschen sich wirklich geändert haben. Was die muslimische Minderheit betrifft, so könnten nach den Ergebnissen meiner Studie die Spannungen gerade dann zunehmen, wenn die jüngeren Angehörigen dieser Gruppe ihren Bildungsrückstand überwinden und beginnen, schneller aufzusteigen als die Mehrheitsdeutschen – womit wir wieder beim Neid und bei der Missgunst wären.

Mit dem Historiker sprach Philipp Engel.


Götz Haydar Aly, 1947 in Heidelberg geboren, ist Historiker, Politikwissenschaftler und Journalist. Sein Themenschwerpunkt ist die Geschichte des Holocaust sowie die Auswirkungen der NS-Zeit auf die nachfolgenden Generationen. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehört das viel diskutierte Buch »Unser Kampf: 1968 – ein irritierter Blick zurück« (2008), in dem er als Zeitzeuge und einstiger Aktivist der Studentenrevolte nachgewiesen hat, dass die 68er ihren Vätern näherstanden, als es ihnen heute lieb ist. 2007 erhielt er für seine Studie »Hitlers Volksstaat: Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus« den renommierten National Jewish Book Award. Sein aktuelles Buch »Warum die Juden? Warum die Deutschen? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933« ist im Verlag S. Fischer erschienen.

Geschichte

Derrick, der Kommissar von der Waffen-SS

Horst Tappert wurde in der Bundesrepublik als TV-Inspektor Derrick gefeiert – bis ein erhebliches Problem in seinem Lebenslauf bekannt wird

von Thomas Gehringer  16.10.2024

Standpunkt

Das Medienversagen

Täter-Opfer-Umkehr und Ja-aber: Viele Redaktionen in Deutschland verzerren Israels Kampf um seine Existenz - mit fatalen Folgen

von Maria Ossowski  16.10.2024

Film

Vom Dilemma einer ganzen Generation

Zwischen den beiden Polen eines Liebesfilms und eines politischen Dramas webt Regisseur Dani Rosenberg in »Der verschwundene Soldat« ein komplexes, vielschichtiges Porträt der israelischen Gesellschaft

von Sebastian Seidler  16.10.2024

Glosse

Wenn die Katze das Sagen in der Laubhütte hat

Die härteste Sukka der Stadt

von Katrin Richter  16.10.2024

Literatur

»Sagen, was wir fühlen – nicht, was wir sagen sollten«

Der israelische Dramatiker Jehoschua Sobol schreibt in seinem Text für die Jüdische Allgemeine über einen Kater, ein Kindheitserlebnis und die Tollwut des Hasses

von Jehoschua Sobol  16.10.2024

Agi Mishol

»Mein Schutzraum ist zwischen den Konsonanten«

Warum Dichter während des Krieges über die Natur, Kinderlachen und die Liebe schreiben müssen

von Anat Feinberg  16.10.2024

Spurensuche

Das richtige Leben?

Olga Grjasnowas neuer Roman ist mehr als nur eine Familiengeschichte

von Nicole Dreyfus  16.10.2024

Liebesgeschichte

Rückwärts ins Vergessen

Frankreichs literarische Überfliegerin Eliette Abécassis präsentiert einen Roman ohne größere Überraschungen

von Sophie Albers Ben Chamo  16.10.2024

Maria Stepanova

Zarter Ton des Trostes

»Der Absprung« besticht durch sprachliche Brillanz

von Maria Ossowski  16.10.2024