»Zu welchem Tier gehört dieses Gebiss?«, fragt Rabbi Natan Slifkin und zeigt auf einen gewaltigen Tierschädel, der neben ihm auf einem Podest thront. Es ist Mittwochmorgen im Biblischen Museum für Naturgeschichte in Beit Schemesch, und der Museumsdirektor Rabbi Slifkin, auch bekannt als Zoo-Rabbi, gibt eine seiner Touren. »Dinosaurier!«, ruft ein kleiner Junge aus dem rund 20-köpfigen Publikum. »Keine Dinosaurier«, sagt Rabbi Slifkin und lacht, »wir berühren hier keine kontroversen Themen.«
Er habe gescherzt, wird Slifkin später sagen, doch darin steckt ein ernster Kern. Denn für religiöse Juden, die die heiligen Schriften wörtlich auslegen, wäre ein Verweis auf das wissenschaftlich belegte Alter der Erde und die Existenz von Dinosauriern tatsächlich ein Eklat – und einen solchen hat der orthodoxe Rabbiner selbst einst ausgelöst.
BOYKOTTAUFRUF Der 45-jährige Slifkin, der in Großbritannien zur Welt kam und 1993 mit seiner Familie nach Israel einwanderte, entdeckte schon im Alter von zwei Jahren seine Leidenschaft für Tiere und Natur. Als Doktorand der jüdischen Geschichte forschte er über rabbinische Perspektiven auf Zoologie; in einer Reihe von Büchern bemühte er sich, Bibel und Biologie miteinander zu versöhnen.
Dass er sich darin unter anderem auf die Evolutionstheorie bezieht, bescherte ihm 2004 einen Boykottaufruf, unterschrieben von 23 zum Teil sehr namhaften ultraorthodoxen Rabbinern. Die Bücher seien »voller Häresie«, hieß es in dem Schreiben, »stellen die Worte unserer Weisen falsch dar und machen die Fundamente unseres Glaubens lächerlich«; der Autor möge »sämtliche seiner Werke verbrennen«. Nachdem Slifkin sich weigerte, die betreffenden Bücher zurückzuziehen, verbreitete sich der Boykottaufruf auf Poster gedruckt in Jerusalem und bald darauf im Internet.
Drei Bücher standen im Zentrum der Aufregung: The Science of Torah, in der Slifkin das wissenschaftlich belegte Alter des Universums sowie die Evolution mit der Schöpfungsgeschichte der Bibel zu versöhnen sucht; Mysterious Creatures, ein Werk über Diskussionen im Talmud über fantastische Kreaturen wie Meerjungfrauen; und The Camel, The Hare And The Hyrax, in dem Slifkin die Gesetze zu unkoscheren Tieren aus biologisch-wissenschaftlicher Perspektive analysiert.
Den größten Anstoß erregten zwei Punkte: Zum einen argumentierte Slifkin in seinen Werken, die biblische Schöpfungsgeschichte sei nicht wörtlich zu lesen, zum anderen legte er nahe, die Geonim, die frühen Talmudinterpreten, hätten sich in ihren Aussagen über Flora und Fauna auf den damaligen Erkenntnisstand gestützt und deshalb hin und wieder falsch gelegen. »Doch dies waren nicht meine eigenen, neuartigen Ansätze«, schrieb Slifkin später zu seiner Verteidigung. »Es waren die Positionen großer Autoritäten wie etwa Rambam und Rabbi Samson Raphael Hirsch!« Es half nichts: Sein damaliger Verlag, Targum Press, stellte den Druck der drei Bücher ein. Zugleich verschaffte der Skandal ihm ungeahnte Aufmerksamkeit, darunter einen Artikel in der »New York Times« – und seinen Büchern zuvor unerreichte Leserzahlen.
BÜCHER Mehr als 15 Jahre liegt die Kontroverse inzwischen zurück, und Slifkin kann hinter der obligatorischen Gesichtsmaske entspannt lächeln, wenn er davon erzählt. Er veröffentlichte die Bücher später in einem anderen Verlag und entfernte die zuvor darin enthaltenen Empfehlungen anderer Rabbiner, um deutlich zu machen, dass die Werke sich nicht speziell an eine religiöse Leserschaft richten.
Seit sechs Jahren ist Slifkin Direktor des Biblischen Museums für Naturgeschichte. Die Besucher kommen aus dem ganzen Land, unter ihnen auch ultraorthodoxe Familien. Inzwischen ist genug Gras über die Affäre gewachsen, zudem spielte sich der Skandal um Slifkins Bücher in der englischsprachigen Sphäre ab. Viele hebräischsprachige Charedim, sagt er, hätten nie von ihm gehört. »Ultraorthodoxe Kinder sind unsere liebsten Besucher«, fügt er hinzu, »sie finden alles spannend, selbst Baby-Schildkröten, nicht gerade die aufregendsten Tiere.«
Im Biblischen Museum für Naturgeschichte füllt Slifkin Wissenslücken.
Die meisten ultraorthodoxen Kinder in Israel besuchen religiöse Schulen, die keine Naturwissenschaften unterrichten. »Sie haben überhaupt kein Wissen«, sagt Slifkin, »deshalb stellen sie interessante Fragen.« Das gelte nicht für Kinder allein: Ein religiöser Besucher aus New York habe sich einmal vor einen ausgestopften Löwen gestellt und gefragt, um was für ein Tier es sich dabei handele. »Manche Leute leben ein sehr urbanes Leben«, stellt Slifkin fest, »völlig abgeschnitten von der Natur.«
BESUCHER Wenigstens einige dieser Wissenslücken versucht er zu füllen. In den Touren, die das Museum auf Englisch und Hebräisch anbietet, lernen die Besucher nicht nur die Tierwelt des biblischen Israels kennen. Sie erfahren auch, warum manche hebräischen Tierbezeichnungen aus der Bibel falsch in europäische Sprachen übersetzt wurden, welches aus heutiger Perspektive exotische Fleisch als koscher gilt und wessen Hörner sich am besten für die Verwendung als Schofar eignen.
Die Besucherzahlen seien in den vergangenen Jahren stetig gestiegen, berichtet Slifkin. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie bietet das Museum außerdem virtuelle Touren für Interessierte aus aller Welt an.
Neben einer Reihe ausgestopfter Tiere, die allesamt das biblische Israel bevölkerten – neben Löwen etwa Gazellen, Geier und Geparden –, gibt es auch eine buchstäblich bunte Auswahl lebendiger Exponate: Schildkröten, Eidechsen, Heuschrecken, Schlangen, Vogelspinnen und diverse Frösche in exotischen Farben.
Die meisten Tiere, ob ausgestopft oder lebendig, bevölkerten einst Slifkins Haushalt: Eidechsen und Schlangen lebten im Keller, die ausgestopften Geparden fanden in den Zimmern seiner fünf Kinder Platz. »Jetzt haben wir nur noch ein paar Enten, Schildkröten und Meerschweinchen«, erzählt Slifkin beiläufig. Dass die exotischeren seiner Haustiere ins Museum umziehen mussten, dürfte einiges zum familiären Frieden beigetragen haben: Seine Frau habe sich jahrelang über die ungewöhnlichen Mitbewohner beklagt, berichtet er grinsend. »Nun hat sie ihr Haus zurück.«