Musik

Der YouTube-Komponist

»Manchmal fügt sich alles in einer Sekunde zusammen«: Ophir Kutiel Foto: dpa

Es ist ein Ensemble der Unbekannten, das Ophir Kutiel zu Weltruhm führt. Talentierte Musiker wie Samantha Montgomery oder Nikki Dodds fristeten auf YouTube bisher ein Schattendasein. Selten erreichten ihre ungeschminkten und verwackelten Aufnahmen mehr als ein Dutzend Zuschauer. Kutiel, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Kutiman, hebt diese Schätze: YouTube-Schnipsel leidenschaftlicher Laien oder ausgekochter Profis schichtet der 32-jährige dabei so lange übereinander, bis sich ein magischer Moment einstellt. »Manchmal ist es nur eine Sekunde« sagt er, »in der sich alles zusammenfügt.«

sampler Um diesen magischen Moment zu finden, braucht es ein feines Ohr – und Zeit. Die findet Ophir Kutiel in der Negev-wüste, wo er, fernab der Hektik Tel Avivs, in einem Kibbuz lebt. Dort hat er die Kulturtechnik des Samplings mit seinen audiovisuellen Collagen um eine neue Dimension bereichert. Sein Online-Musikvideo- Projekt Thru You aus dem Jahre 2009 gilt als erste Komposition, die alleine aus YouTube-Samples geschaffen wurde. Kutiels Erstling wurde auf YouTube millionenfach aufgerufen. 2014 folgte Thru You Too. Allein das Stück Give It Up daraus brachte es in den ersten vier Tagen auf über 1,2 Millionen YouTube-Klicks. Give It Up wird von einem sechsjährigen Mädchen namens Alma mit einem einsamen und mit aller Feierlichkeit vorgetragenen Piano eröffnet, ehe sich mit Schlagzeug und Gitarre, Bass und Cello und nicht zuletzt der Sängerin Samantha Montgomery eine ganze Band hinzugesellt.

Man kann Give It Up auch als Metapher auf Kutiels Werdegang verstehen. Geboren in Jerusalem und aufgewachsen im nordisraelischen Städtchen Zichron Yaakov am Südende des Karmelgebirges, entdeckte er im Alter von sechs Jahren das Klavierspiel. Als Teenager griff er dann zu Schlagzeug und Gitarre. Es folgte ein Jazzstudium am Rimon Music College in Tel Aviv.

Schon vor dem Hype um seine YouTube-Collagen war Ophir Kutiel in der Welt der Musik kein unbeschriebenes Blatt. Einen Namen machte er sich mit seinem 2007 bei dem Kölner Label »Melting Pot« erschienen Album Music Is Ruling My World. Jenseits gängiger Stereotypen verwebt der Multiinstrumentalist darin Bollywood-Sounds, Funk und Rock mit Hip-Hop und Psychedelic Jazz zu einer »völlig neuen Art der Musik«, wie das trendige französische Musikmagazin und Label »Paris DJs« schwärmte.

stilmix Mit seinem neuen Werk Thru You Too stellt sich der Israeli jetzt ganz in die Tradition ihn prägender Sampling-Künstler wie Gershon Kingsley oder DJ Shadow. Mit dem Unterschied, dass Kutiman sich nicht bei Tonbändern oder Vinylplatten, sondern bei Musikvideos bedient. Nicht zufällig wurde Joshua Davis alias DJ Shadow bei seinem Konzert im Jahre 2010 in Tel Aviv vom »Kutiman Orchestra« begleitet, das namhafte israelische Musiker wie Keren Karolina Avratz, Eyal Talmudi oder Chaka Moon versammelt.

Das in alle Welt verstreute Judentum sei besonders prädestiniert, die verschiedenste Stilebenen zu mixen, meinte kürzlich Barrie Kosky, der australische Intendant der Berliner Komischen Oper. Auch Ophir Kutiel saugt unterschiedlichste Musik wie ein Schwamm auf. Das kann man in einem Dokumentarfilm sehen, der ihn bei einer Reise zum Jüdischen Kulturfestival in Krakau begleitet. Der liturgische Gesang eines Rabbiners oder das Wehklagen einer singenden Säge vermengen sich dabei mit galoppierenden elektronischen Beats oder einer ungezähmten Bluesgitarre.

Auch auf Thru You erschuf Kutiel Weltmusik im besten Sinne: Musiker, die stilistisch nichts verbindet und die Kontinente trennen, bringt er in seinem Orchester der Unbekannten zum Klingen. Während Thru You aber noch geprägt war durch Spielarten wie Downbeat, Drum’n’Bass oder Dub, entfaltet Thru You Too Wirkung durch seine schlichte Eleganz: verwehte Gitarrenklänge hier, verträumte Marimba-Soli dort – und dahinter ein hypnotischer Beat. Glanz verleihen Kutimans reduzierten Kompositionen vor allem Vokalistinnen wie Samantha Montgomery, Nikki Dodds oder Arie Germaine. »Ich hatte mit dieser Veröffentlichung bereits jetzt meinen Platz an der Sonne«, sagt Montgomery.

business Inzwischen gilt Ophir Kutiel als einer der bekanntesten israelischen Musiker weltweit. Die New York Times schwärmt ebenso von ihm wie die israelische Tageszeitung Haaretz. Seine Website wurde kürzlich von Awwwards als »Best Web Design Trend« mit einer besonderen Auszeichnung gewürdigt. Auch im New Yorker Guggenheim-Museum ist er mit seiner Videokunst vertreten.

Mit seiner Arbeit erinnert Kutiel aber auch an den guten Geist der frühen YouTube-Clip-Kultur Mitte der Nuller-Jahre, der mittlerweile angesichts weitgehender Kommerzialisierung und werbefinanzierter Kanäle in den Hintergrund getreten ist. »Es geht mir nicht ums Geld«, beteuert der Komponist. Tatsächlich gibt er seine Musik dorthin zurück, wo er sie zuvor entliehen hatte: an YouTube.

Nur zum Spaß betreibt der Israeli seine Arbeit dennoch nicht. Er kann von ihr leben und ist ein Beispiel dafür, welchen wirtschaftlichen Mehrwert frei fließende Informationen generieren können, ganz wie es sich der Creative-Commons-Schöpfer Lawrence Lessig zum Credo machte. Mit den Stücken der Thru You-Reihe tritt sein »Kutiman Orchestra« mittlerweile weltweit bei Konzerten von Tel Aviv bis Riga auf. Wie kaum ein zweiter dieser Tage beherrscht Ophir Kutiel den Spagat zwischen der Gratiskultur des Internets und einem einträglichen Geschäftsmodell – und ist damit so etwas wie der Komponist unserer Ära.

www.youtube.com/user/kutiman

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025