Eine Gasse im Warschauer Ghetto. Zwei SS-Männer herrschen einen Juden an: »Warum haben Sie sich nicht verbeugt?« Der Jude neigt sich vor, senkt den Kopf, zieht den Hut – und der junge SS-Bengel ohrfeigt ihn so brutal, dass der ältere Herr aufs Pflaster stürzt. Eine Szene aus Roman Polanskis Welterfolg Der Pianist.
Eine Szene auch aus Roman Polanskis eigenem Leben. Es ist ein Leben, dessen Katastrophen und glückliche Fügungen, dessen Erschütterungen und Welterfolge ihn selbst ratlos fragen lassen: »Welches Schicksal ist besser, dieses Auf und Ab der ausschlagenden Amplitude oder ein gleichmäßiges Dahinleben ohne größere Schwankungen? Existiert ein freier Wille? War alles Vorhersehung? Ist alles längst aufgeschrieben, bevor wir es erleben?« (zitiert aus dem exzellenten Dokumentarfilm Roman Polanski. A Film Memoir von 2011).
Zur Welt gekommen ist Raymond Liebling am 18. August 1933 als Sohn jüdisch-polnischer Eltern in Paris. Sein Vater konnte die Familie als Kunstmaler nicht ernähren, verkaufte Schallplatten und Kunststoffprodukte und entschied ausgerechnet kurz vor Kriegsbeginn, mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Polen zurückzukehren. Mojzesz Liebling versuchte, in Krakau Fuß zu fassen, schickte die Familie jedoch zunächst nach Warschau.
HUNGER An den Hunger nach Kriegsbeginn erinnert sich Polanski bis heute. Einmal fand die Mutter ein Häufchen Zucker auf dem Boden und brachte es mit, ein anderes Mal eingelegte Gurken in Konservendosen. Beide Bilder, beide Sequenzen finden sich wieder im Oscar-prämierten Film Der Pianist: Ein halb verhungerter Mann lässt im Ghetto die Schüssel mit Brei in den Dreck fallen und bückt sich, um die kostbare Nahrung aufzukratzen und die Reste vom Boden zu essen. Der Pianist (Adrien Brody) überlebt im Versteck mit eingelegten Gurken aus Konservendosen.
Polanskis Mutter wurde als Schwangere im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Polanski hat die Biografie des Musikers und Überlebenden Władysław Szpilman filmisch verschränkt mit den eigenen Traumata – und dort längst nicht alle verarbeitet. Sein Vater war der von der SS Geohrfeigte, er überlebte die Schoa nur knapp in Mauthausen. Romans Mutter wurde als Schwangere in Auschwitz ermordet.
Er selbst fand unerkannt bei polnischen Bauern Unterschlupf, hat in der Nähe von Auschwitz Hühner gefüttert und bei der Ernte geholfen. Der Junge Roman entging einer Erschießung, verlor die besten Kinderfreunde, wurde Zeuge der Morde im Krakauer Ghetto und hoffte noch lange nach Kriegsende, die Mutter wiederzusehen.
MISSTRAUEN Künstlerisch begabt wie sein Vater, studierte Roman in Polen zunächst Malerei, während er gleichzeitig Theater spielte. Sein Freund, der Regisseur Andrzej Wajda, bestärkte ihn beim Wechsel auf die Filmhochschule. Polanski schloss sie mit Auszeichnung ab. Die kommunistische Kulturelite des Landes begegnete dem Hochbegabten mit Misstrauen. Polanskis erstes Meisterwerk Das Messer im Wasser (1962) erhielt international viele Preise und wurde für den Oscar nominiert.
Doch der Chef der polnischen kommunistischen Partei, Władysław Gomułka, hielt den Film für »intellektuell flach«. Polanski zeichnete abenteuerliche Konstruktionen für Flucht-U-Boote, bis es ihm gelang, in den Westen zu emigrieren und sich in Paris und London niederzulassen.
Mit den Filmen Ekel (1965) und Tanz der Vampire (1967) avancierte Polanski zum Weltstar. Wer vergisst je den Horror der aus den Wänden wachsenden Hände, die Catherine Deneuve immer weiter in ihren männerhassenden Wahn treiben? Und wer hat nicht Tränen gelacht, als ein verliebter schwuler Vampir Polanski in den Hals beißen will und dieser ihm eine Bibel zwischen die Zähne klemmt?
Beim Tanz der Vampire wollte Polanski 1967 die junge Schauspielerin Sharon Tate zunächst nicht besetzen. Sie schien ihm zu glatt, er hatte sich eine charaktervollere jüdische Darstellerin gewünscht. Doch mit ihrer ironisch-erotischen Spielweise und roter Perücke passte sie bestens in die Rolle. Die Horrorkomödie entwickelte sich zum Blockbuster und zu einem kurzen privaten Glück für Polanski: Sharon Tate und er heirateten und lebten gemeinsam in Los Angeles.
killer Polanski arbeitete in London, als ihn am 9. August 1969 der Anruf erreichte: Seine Frau, kurz vor der Niederkunft, das Ungeborene und einige Freunde seien im Haus tot aufgefunden worden. Polanski konnte es nicht begreifen, vermutete einen Erdrutsch, flog zurück und eilte an den Tatort. Killer des Manson-Clans hatten, wie sich erst später herausstellte, die im neunten Monat schwangere Sharon Tate und einige ihrer Freunde überfallen und brutal ermordet.
Seine Mutter schwanger in der Gaskammer erstickt, seine hochschwangere Frau ermordet von Jüngern eines Rassenwahn-Killers: Neben der Trauer quälte Polanski die Hetzjagd der britischen Revolverblätter, die entgegen aller Beweise aus den USA überlegten, ob der Schöpfer von Rosemaries Baby (1968) als Auftraggeber für mögliche Ritualmorde infrage käme. »Ich habe mich nie davon erholt und war einige Jahre nicht ich selbst«, so Polanski in Andrew Braunsbergs Dokumentarfilm über sein Leben.
Eines seiner bekanntesten Werke entstand sechs Jahre später: Chinatown mit Faye Dunaway und Jack Nicholson. Ein Film Noir, ein Krimiklassiker, clever montiert, im 40er-Jahre-Stil ausstaffiert. Polanski selbst spielte die Rolle eines fiesen Nasenschlitzers. Wenn irgendetwas nicht zu klären ist, offen bleibt, über das Begriffsvermögen hinaus geht, dann gilt der letzte Satz: »Forget it, Jake, itʼs Chinatown.«
hausarrest Die letzten Jahrzehnte von Polanskis Schaffen bleiben überschattet von einer Straftat aus dem Jahr 1977. Polanski hatte laut Anklage eine 13-Jährige unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Er bekannte sich selbst als schuldig und hat mehrere Monate in den USA und in der Schweiz im Gefängnis sowie unter Hausarrest verbracht. Nach einem juristisch problematischen Angebot der US-Staatsanwaltschaft flüchtete Polanski nach Europa und hat die Vereinigten Staaten aus Angst vor einer erneuten Verhaftung seither nicht mehr betreten.
Der Vergewaltigung einer 13-Jährigen bekannte er sich schuldig – das Opfer hat ihm die Tat verziehen.
Das Opfer hat ihm in einer prominenten TV-Sendung verziehen und erklärt, Polanski habe genug gebüßt. Auch ihr habe die jahrzehntelange Jagd der Medien mehr geschadet als die Tat selbst. Doch gegen Polanski haben mittlerweile weitere Frauen öffentlich Vergewaltigungsvorwürfe erhoben, wobei die mutmaßlichen Taten Jahrzehnte zurückliegen sollen. Polanski weist die Vorwürfe zurück.
reich-ranicki 2001 hat Roman Polanski in Polen seinen wichtigsten Film gedreht: Der Pianist. Marcel Reich-Ranicki schrieb begeistert: »Was ich nie zu hoffen wagte, das ist Roman Polanski hier gelungen – sein Film ›Der Pianist‹ ist eine fast unfassbar authentische Wiedergabe unseres Alltags im Warschauer Ghetto.« Der Kritiker endet mit den Worten: »Und Polanski hat es – das immer wieder verwendete Wort –, hier sei es mir erlaubt: Er hat es meisterhaft gemacht.« Für diesen Film bekam Polanski 2003 in Los Angeles den Oscar als bester Regisseur – in Abwesenheit.
Der Regisseur wird seinen 90. Geburtstag mit seiner Frau Emmanuelle Seigner und seiner Familie verbringen. Auf seinem Grab, so wünscht er es sich, soll einst eine Filmdose mit seinem bedeutendsten Werk stehen: Der Pianist. Die Geschichte seiner Kindheit, seiner Familie und seines Volkes, die ihn bis heute begleitet.